Charles Dantzig

Wozu lesen? (Steidl Pocket)


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Literatur. Und eine der nervigsten Figuren der französischen Literatur erfunden zu haben, das ist doch was! Zudem ist es ein satirischer Roman, in dem zugleich ein Mittelalter-Roman steckt. Weil Solal fürchtet, dass »das Gesellschaftliche«, wie er es nennt, seine Liebe zu Ariane töten wird, sperrt er sie ein: Mittelalter-Roman. All dies geschieht im mondänen Milieu der Madame Deume, einer prätentiösen dummen Gans, und ihres Sohns, eines ausgemachten Nichtsnutzes, der beim Völkerbund Bleistifte anspitzt. Die Schöne des Herrn ist wie ein Hanswurst auf einem Trampolin voller Narren. Es ist sehr viel mehr als eine Geschichte, es ist ein Bild. Ein Bild, das uns Cohen auf geschickte, geistreiche, zauberhafte Weise nahebringt. Man liest ein Buch nicht um der Geschichte willen, man liest ein Buch, um mit seinem Autor ein Tänzchen zu wagen.

      Die angenommene Passivität des Lesers

      Es gibt Momente, in denen es dem Leser durchaus gelegen kommt, sich in einer passiven Rolle zu sehen. Dann nämlich, wenn er von einem Buch nicht begeistert ist. Nur hat man bloß, weil man nicht begeistert ist, nicht unbedingt recht. Der Leser vergisst häufig, wenn er dem Autor etwas vorwirft, dass er möglicherweise selbst Schuld daran trägt. Er kann unter schlechten Voraussetzungen gelesen haben. Schlecht gelaunt gewesen sein. Nicht wirklich gelesen, sondern nur nach der Bestätigung seiner Vorurteile gesucht haben. Doch all das bedenkt er nie. Schuld trägt immer der Autor. Obwohl es durchaus vorkommt, dass dieser gescheiter ist als sein Leser.

      Im Allgemeinen wird vorausgesetzt, Leser seien anständige Menschen, alle Leser seien anständige Menschen. Aber auch Idioten lesen. Sie sind das Publikum für Bücher, die behaupten, die Attentate des 11. September 2001 seien von Amerikanern verübt worden. Hohlköpfe. Oder für Bücher, in denen die Gesellschaft des Spektakels niedergeschrien wird, Bücher von Guy Debord. Fieslinge. Oder für Bücher von Louis-Ferdinand Céline. Zyniker. Und dann gibt es noch die Dummen, eine ideale Leserschaft für aggressive Essays von pedantischen Autoren. Doch kehren wir diesen verabscheuungswürdigen Lesern den Rücken, denn über schlechte Menschen kommt man nicht zu guten Gedanken.

      Die fügsame Leserin

      Magritte wählte für seine Bilder meist erklärende Titel, wie etwa die Fügsame Leserin, die mit ihrer großen Nase und den dicken Augenbrauen der Callas ähnelt und der beim Lesen in einem Buch ein Aufschrei entfährt. Wie würde man Magrittes Bilder interpretieren, hätten sie keine Titel? Wäre die Ironie überhaupt zu erkennen? Und beweist das nicht die Schwäche der Ironie? Gehen wir davon aus, dass der Titel bei Magritte Teil des Bildes ist, weshalb er ihn manchmal sogar direkt auf die Leinwand malt wie bei Ceci n’est pas une pipe. Heute würde Magritte vielleicht Museumsbesucher malen, mit übergestülpten Kopfhörern, die Augen aufgerissen wie die Leserin. Titel des Tableaus (auf die Leinwand gemalt oder nicht): Die Audioguides. Die Audioguides! Die Leute bestehen auf ihre Gedankenlosigkeit. Dabei sind wir nur, während wir lesen, vor der Pädagogik sicher. Die Lektüre kann in eine bestimmte Richtung gelenkt worden sein [vorher] und zu Interpretationen führen [nachher], aber währenddessen ist man auf sich gestellt. Was manchmal einem Kampf gleichkommt: Der Leser gegen das Buch, das ihn irritiert; der Leser gegen sich selbst und sein eigenes Unverständnis. – Bleibt es ein Duell oder wird es zum Duett?

      Lesen, um die Buchmitte zu überwinden

      Ich lese Der Mann ohne Eigenschaften von Musil. Es ist ein langes Buch. Zwei Bände mit jeweils tausend Seiten. Es hat etwas von einem Kampf, diese Berge zu besteigen. Ah, du glaubst, du kannst mich bezwingen? Langsam, grimmig und mit viel Geduld erklimmt man die erste Hälfte und denkt schon an den Abstieg, der leichter sein wird. Dabei packt einen ein Hochgefühl, in das sich Empörung mischt. Wie unverfroren, so viele Seiten zu veröffentlichen! Was für eine Zumutung! So etwas verzeiht man nur dem Genie, glücklicherweise habe ich es hier mit einem solchen zu tun. Also los, weiter geht’s! … Nur noch sechzig Seiten! … Neunundfünfzig! …

      Um der Titel willen lesen

      Ich frage mich, ob ich nicht noch einen Grund fürs Lesen gefunden habe: das Bedürfnis, sich selbst zu widersprechen. Wenn ich einen Autor nicht mag, nehme ich ihn mir ein zweites Mal vor. Komm schon, die Schuld liegt bei dir, vielleicht ist er ja doch sehr gut! Wenn ich herausfinde, dass ich mich tatsächlich getäuscht habe, bin ich begeistert. Ich habe ein Vorurteil abgelegt.

      Bei Marguerite Duras hätte ich mich damit zufriedengeben können, dass sie mir auf die Nerven geht. Ich hätte nur die Titel lesen sollen. Sie sind exzellent. Les Yeux bleus cheveux noirs (dt. Blaue Augen schwarzes Haar). Klingt wie eine moderne Fassung des wunderschönen Titels von Thomas Hardy, Blaue Augen, der sich auf Englisch allerdings besser macht: A Pair of Blue Eyes (1873). Oder auch Des journées entières dans les arbres (dt. Ganze Tage in den Bäumen). Die Titel zeigen am deutlichsten den Beckett’schen Einfluss auf ihr Werk. La Pute de la côte normande (dt. etwa: Die Hure von der normannischen Küste). Als Feindin der Wohlanständigkeit spricht sie Dinge gern unverblümt aus. Alle ernstzunehmenden Schriftsteller, diese Flegel, beschreiben Dinge, von denen sich das Establishment für den eigenen Seelenfrieden wünschen würde, sie blieben unausgesprochen. Dix heures et demie du soir en été (dt. Im Sommer abends um halb elf). Könnte auch ein Françoise-Sagan-Titel sein. (Bei dem Vergleich knirschen Duras-Fans mit dem Gebiss.) Hier zeigt sich, dass ein Titel ohne Autorenname seine Bedeutung nicht voll entfalten kann. Gibt es das eigentlich in der Literatur, einen Titel ohne Autor? Mit anderen Worten Titel, deren Autoren anonym geblieben sind? Die gibt es allerdings, und wir hören nie auf nach den Autoren zu suchen. Ganz Frankreich fragte sich jahrzehntelang, wer die Geschichte der O geschrieben hatte, diesen erotischen Roman aus dem Jahr 1954. Als bekannt wurde, dass ihn Dominique Aury verfasst hatte, eine Übersetzerin und Verlagsangestellte, verlor das Buch schlagartig an Strahlkraft. Bis dahin hatten Vermutungen kursiert, der Autor sei dieser oder jener bekannte Schriftsteller. Die Nähe zu Jean Paulhan, ein berühmter Zeitschriftenherausgeber und Verleger, der das Vorwort verfasst hatte, machte den Roman noch reizvoller, weil man zwischen den Zeilen nach Hinweisen auf seine Autorschaft suchte – und diese natürlich auch zu finden glaubte. Wer sucht, der findet, was er will. Zwischen den Zeilen liegt ein wunderbarer, magischer Raum, welcher Lesern, die des Denkens überdrüssig sind, ermöglicht, was sie eigentlich wollen: sich überzeugen lassen.

      Ein Titel erlangt seine vollständige Bedeutung erst in Verbindung mit dem Namen des Autors. Im Sommer abends um halb elf könnte nicht nur ein bürgerlicher Roman sein, der in Théoule spielt, sondern genauso gut eine englische Kriminalkomödie oder der innere Monolog eines russischen Mystikers kurz vor seinem Selbstmord, kurzum, ein Titel für sich allein will gar nichts heißen. Marguerite Duras, Im Sommer abends um halb elf hingegen, bitteschön, das sagt etwas aus. Bücher werden von Menschen geschrieben, und nur Leute, die in ihrem Leben schon manch eine Schweinerei begangen haben oder schlichtweg an Überheblichkeit leiden, behaupten: »Meine Biographie ist meine Bibliographie.« Nur Dreckskerle verstecken sich hinter dem Ästhetizismus. Das ist auch der Grund, warum wir in einem Schriftsteller, wenn es gut läuft zwischen uns und seinem Buch, einen Freund finden, ja wirklich, einen richtigen Freund. Der Autor hat Fehler. Wie ein Freund. Man mag ihn, und man ärgert sich über ihn. Wie über einen Freund. Habe ich, der Leser, etwa keine Fehler? Würde sich der Autor nicht auch über mich ärgern, wenn wir uns begegneten?

      So ein Schriftsteller ist eine praktische Sache, weil man ihm Fehler anhängen kann. Womit ich nicht sagen will, dass Schriftsteller keine Verantwortung tragen, welch eine erbärmliche moralische Haltung, welch eine erbärmliche literarische Haltung wäre das. Wenn wir jede Verantwortung ablehnen, ist unsere Literatur nichts als leeres Geschnatter.

      Lesen, um nicht mehr Königin von England zu sein

      Auf einem Spaziergang rund um ihr Schloss bleibt Königin Elisabeth II. vor einem Bibliotheksbus stehen. Hocherfreut leiht ihr der Bibliothekar ein Buch, das sie auf gut Glück herausgegriffen hat, den Roman einer Autorin, von der sie in ihrer Jugend