bleiben, wo es auch seinen Eltern gefiel, nachdem sie sich eingelebt hatten.
Seine Mama, die den kleinen Haushalt versah und inzwischen so viel Italienisch gelernt hatte, dass sie sich mit den Nachbarn, in den Geschäften und mit dem freundlichen Hausmeister Peppino gut verständigen konnte, hatte anscheinend kein Heimweh mehr und sagte zu Georg Krauss und anderen guten Freunden, die aus Deutschland zu Besuch kamen: »Ich beneide euch nicht, dass ihr zurück nach Berlin fahren könnt … Ich bin froh, dass wir in Rom leben – ich möchte nirgendwo anders sein!«
Sein Papa fühlte sich ebenfalls wohl in Rom, allerdings – wie Putti wusste – sehnte er sich nach seiner großen und angesehenen Anwaltspraxis. In Cinecittà war er ja nur ein Angestellter, zwar mit auskömmlichem Gehalt und dem Chef als Freund, aber eben nicht mehr sein eigener Herr. Für die Schauspieler allerdings war er, der dottore, die wichtigste Persönlichkeit: Von ihm bekamen sie ihre Verträge, er war es, dem sie ihre Wünsche und Beschwerden vortrugen und der dann alles und meist zur allseitigen Zufriedenheit regelte, und außerdem zahlte er ihnen die Gagen aus.
Einmal war Putti dabei gewesen, als der Papa mit einer dicken Aktentasche voller Banknoten in sein kleines Büro ging, vor dessen Tür schon einige der Darsteller warteten. Einer der Jüngeren hatte sich dann mit ihm unterhalten, ihm geraten, doch auch zum Film zu gehen; eine große Karriere wäre ihm sicher.
Papa hatte sich daraufhin eingemischt: »Vittorio, setz doch dem Jungen keine Flausen in den Kopf! Eine große Karriere – dass ich nicht lache! So wie du, was? Nein, Riccardo wird natürlich Jurist – ein avvocato vielleicht, der dich verteidigen kann, wenn du wieder Ärger mit dem commissario hast …«
Sie hatten beide gelacht, und später hatte Putti von seinem Vater wissen wollen, ob dieser Vittorio ein berühmter Schauspieler wäre. Der Papa hatte gemeint, er sei zwar ein netter Kerl, aber berühmt könnte man ihn nicht nennen.
»Noch nicht«, hatte Willy Karol ihn verbessert. »Immerhin ist dieser De Sica meine Entdeckung, und ich glaube an sein Talent … Willst du etwa Schauspieler werden, Richard?«
»Nein«, erklärte Putti, »ich werde Portier – wie Signore Luigi. Dann verdiene ich so viel, dass ich uns ein Haus kaufen kann und eine Villa am Meer!«
»So ist es richtig!«, lobte ihn Karol. »Was meinst du, was ich schon alles gemacht habe, ehe ich direttore generale geworden bin! Schon mein Einstieg ins Filmgeschäft war nicht ganz einfach: Mein Bruder, der vor ein paar Jahren den ersten Tonfilm in USA gemacht hat – mit Al Jolson, The Singing Fool! –, war damals Vorführer in einem Lemberger Vorstadt-Kino. Er war zwanzig, ich war achtzehn, und wir sind dann in die kleinen galizischen Städtl gefahren – nach Rozborz und Zbydmów und Nisko –, wo wir auf eigene Rechnung allerlei Filmchen vorgeführt haben, meist in einem Zelt. Weil es oft keinen Strom gab, haben wir ihn von der Oberleitung der Eisenbahn abgenommen – mit einem Transformator. Einmal mussten wir die Vorstellung samt Zelt abbrechen, weil eine Rangier-Lokomotive kam, und ein andermal drohte uns ein Rabbi mit dem Großen Bann, ›weil man sich nicht soll machen keinerlei Bildnis‹, und mein Bruder erklärte, wir machen doch nicht, wir fuhren doch nur vor! Das hat ihn glücklicherweise überzeugt … Also, aus eigener Erfahrung schlage ich dir vor, du machst beides: Du tust, was dein Chef, Signore Luigi, dir rät, und wirst ein guter Hotelportier, und du machst dein Abitur und wirst dottore, wie es dein Papa will. Und wenn du daneben auch noch Schauspieler oder Filmmanager oder beides wirst, so kann das nichts schaden!«
Tags darauf, als Putti in die Schule kam, herrschte dort große Aufregung: Die Pflicht zum Beitritt in die faschistischen Jugendorganisationen war soeben auch auf die ständig in Italien lebenden Kinder von Ausländern ausgedehnt worden!
Der Direktor des Lycée Chateaubriand, ein imposanter Herr mit gepflegtem Bart, hielt ihnen eine Ansprache, die in der Feststellung gipfelte, dem in Italien genossenen Gastrecht ständen auch Gastpflichten gegenüber, die es freudig zu erfüllen gelte. Alle Schüler bis zum zwölften Lebensjahr hätten sich deshalb in die Balilla, die Zwölf- bis Achtzehnjährigen in die Avanguardia einzureihen und ebenso gute Faschisten zu werden wie ihre italienischen Kameraden. Mit Stolz sollten sie ihre Schwarzhemden tragen, und bis zum Ende der Woche müsste jeder Schüler eine Uniform haben! Bald käme der große Tag, an dem das ganze Lycée Chateaubriand unter seiner Führung geschlossen zur Piazza Venezia marschieren und dem Duce zujubeln würde: Evviva l’Italia! Evviva il Duce!
Diese Mitteilung wurde von den meisten mit großer Freude aufgenommen, denn nun würden sie an jedem faschistischen Feiertag schulfrei haben, und auch schon vorher müsste der Unterricht häufig ausfallen, weil Marschieren ja geübt sein will. Putti erkundigte sich vorsichtshalber, ob auch »Nichtarier« … Der Direktor schnitt ihm das Wort ab: »Non c’é questione di razza …!«
Der »Duce« Benito Mussolini vor der avanguardisti des Lycée Chateaubriand
So bekam Putti zu seiner grünen Pagenuniform mit den blanken Messingknöpfen noch eine zweite, schwarze, nebst silberpaspeliertem schwarzem Käppi, die er allerdings nur selten tragen musste, denn er hatte sich wegen seiner Arbeit im Excelsior vom regelmäßigen Dienst befreien lassen. Meist hing die avanguardisti-Uniform im Schrank, aber jedes Mal, wenn er sie an einem der zahlreichen faschistischen Feiertage anziehen musste, seufzte seine Mutter: »Ich hoffe sehr, Putti, dass dies die letzte ist, die du tragen musst, und dass sie dich nicht auch noch zum Militär einziehen …!«
»Aber, Mama, ich bin noch nicht mal 15!«, beruhigte er sie.
Im Oktober 1935 waren 18 italienische Divisionen in Abessinien eingefallen, und seitdem führte Italien einen mörderischen, auf beiden Seiten verlustreichen Krieg zur Eroberung dieses riesigen Landes, dessen Kaiser, Negus Haile Selassie, seine Lanzenreiter und Bogenschützen gegen die Panzerkorps der Eindringlinge anstürmen ließ. Seit Januar 1936 setzte die italienische Luftwaffe auch Sprengbomben und sogar Giftgas gegen die Äthiopier ein – zur Empörung der Weltöffentlichkeit, unter deren Druck die meisten Regierungen sich den vom Völkerbund gegen Italien verhängten wirtschaftlichen Sanktionen angeschlossen hatten.
Im Sommer 1936, kurz nach Puttis 15. Geburtstag, brach in Spanien ein blutiger Bürgerkrieg aus, in den bald auch – auf Seiten des putschenden Militärs unter General Franco und gegen die Verteidiger der Republik und ihrer verfassungsmäßigen Regierung – deutsche und italienische Truppen eingriffen.
»Das gefallt mir gar nicht«, hörte Putti seinen Vater einmal zu Willy Karol sagen. »Diese deutsch-italienische Waffenbrüderschaft in Spanien könnte dazu fuhren, dass Hitler auf Mussolini stärkeren Einfluss gewinnt …«
»Oder umgekehrt«, meinte Karol, der zum Optimismus neigte. »Der Duce könnte durchaus mäßigend auf Hitler einwirken, zumindest, was dessen schwachsinnige ›Rassentheorien‹ angeht, deren Unhaltbarkeit sich in Berlin doch eben wieder beweist!«
Es fanden dort gerade die Olympischen Spiele statt, und deren unbestrittener Star war der schwarze Amerikaner Jesse Owens, der in gleich vier Leichtathletik-Disziplinen Goldmedaillen errang! Dieser triumphale Erfolg eines Farbigen, der nach den Thesen der Nazis zu den »Minderwertigen«, den »Ariern« weit Unterlegenen gehören sollte, hatte – wie aus seiner Umgebung glaubhaft berichtet wurde – bei Hitler Wutanfälle ausgelöst und ihm die Freude an der propagandistisch für ihn so wichtigen Olympiade gründlich verdorben.
Und schuld an Hitlers Ärger waren, wie Putti seinem Vater und Herrn Karol berichten konnte, wieder mal die Juden: Die Florettfechterin Helene Mayer aus Offenbach, die 1928 bei der Olympiade in Amsterdam eine Goldmedaille gewonnen hatte und seither zweimal Weltmeisterin geworden war, sollte zunächst nicht zur deutschen Olympiamannschaft zugelassen werden, denn »die blonde He«, wie sie genannt wurde, galt nach den Rassegesetzen der Nazis als Jüdin.
Die »Blonde He«, die Fechterin Helene Mayer, die als »Nichtarierin« olympisches Gold und Silber für Deutschland gewann