Bernt Engelmann

Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket)


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und uns großen Respekt einflößte, brachte seinen mehr als fünfzig Schülern nicht nur die Künste des Schreibens, Lesens und Rechnens bei, sondern auch Turnen, Zeichnen, märkische Heimat- und Naturkunde, ja sogar Religion.

      Was den Religionsunterricht betraf, so wurde damals bei den Erst- und Zweitklässlern zwischen den verschiedenen Glaubensbekenntnissen kein Unterschied gemacht. Herr Strelow erteilte ihn für Evangelisch-Lutherische, Reformierte, Juden, Katholiken, Neuapostolische, Russisch-Orthodoxe und auch einen Armenier.

      Es gab in Berlin-Wilmersdorf in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Tausende von Flüchtlingen aus ganz Ost- und Südosteuropa und aus Vorderasien. Knapp die Hälfte der Schüler unserer Klasse waren – meist bereits in Berlin geborene, mit dem Dialekt längst vertraute und von den anderen teils als »knorke«, teils als »doof« befundene – Kinder solcher Emigranten. Herr Strelow gab einen universalen, auf den Zehn Geboten basierenden und mit jugendfreien Geschichten aus dem Alten Testament angereicherten Religionsunterricht für alle – ausgenommen Putti.

      Wenn sich Herr Strelow dazu entschloss, die letzten 45 Minuten des Vormittags zur Religionsstunde zu erklären, dann packte Putti, von uns anderen teils mitleidig, teils neidvoll betrachtet, eilig seinen Tornister und ging nach Hause.

      Putti, vorn liegend, Bernt im Matrosenanzug, rechts dahinter, und ihre Volksschulklasse, 1928

      Als dies das erste Mal geschah, berichtete ich schon beim Mittagessen meinen Eltern von diesem sensationellen Ereignis. Ich erfuhr dann, dass Puttis Eltern und daher auch er »Dissidenten« wären, die keiner der üblichen Religionsgemeinschaften angehörten, und seine Eltern hätten ihn daher vom Religionsunterricht befreien lassen.

      »Ja«, so bestätigte mir dann auch Putti, »wir sind Dissidenten. Wir gehen nicht in die Synagoge und auch nicht in die Kirche.«

      Ich konnte dem stolz entgegenhalten, dass mich meine Großmutter schon einmal in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mitgenommen hätte, und dass ich auch bereits – mit Hirschfelds und mit einem geborgten sauberen Taschentuch auf dem Kopf – in der neuen Synagoge in der Prinzregentenstraße gewesen wäre.

      Doch damit konnte ich Putti nicht imponieren.

      Nur so zum Ansehen, sagte er, wäre er auch schon in Kirchen und Tempeln gewesen, einmal sogar in der weißen Moschee hinter dem Fehrbelliner Platz. Er müsste aber nicht, nicht mal an hohen Feiertagen und sonntags schon gar nicht, eben weil er und seine Eltern Dissidenten seien.

      Zwar gab es auch für mich keine solche Pflichten; Religion galt in unserer Familie als jedermanns Privatsache. Aber eine bis dahin bloße Vermutung wurde mir nun zur Gewissheit: Bestimmte, bei keiner anderen mir bekannten Familie anzutreffende Sonntagsbräuche im Hause von Puttis Eltern, die mir und, wie ich wusste, auch meinem Vater sehr gefielen, mussten einfach damit zusammenhängen, dass sie etwas Besonderes, nämlich Dissidenten waren.

      Beinahe an jedem Sonntagvormittag, gegen elf Uhr, besuchte mein Vater mit mir Puttis Eltern, die ganz in der Nähe wohnten und an deren Eingangstür auf einem blanken Messingschild Dr. jur. Curt Eichelbaum stand. Mit Onkel Curt, wie ich ihn nannte, war mein Vater seit den Tagen ihrer gemeinsamen Schulzeit eng befreundet.

      Als Grund für die sonntäglichen Besuche bei Eichelbaums gab mein Vater an, sie böten ihm Gelegenheit, mit seinem Freund Curt dies oder jenes zu bereden, auch eine Partie Schach zu spielen, und die Kinder könnten sich derweilen mit der elektrischen Eisenbahn oder etwas anderem beschäftigen. Sein Hauptinteresse dort galt jedoch nicht dem Schachspiel, sondern – das fand ich schnell heraus, weil es mir genauso ging – dem mächtigen, reichgeschnitzten Eichenbüfett oder vielmehr dem, was – nur an Sonntagen! – darauf angerichtet war: große Platten und Schüsseln mit Pasteten, Salaten, Räucherlachs, kaltem Geflügel und Braten, Hummermayonnaise und anderen Leckerbissen, Obst und Süßigkeiten noch und noch – Festtagsspeisen für den ganzen Tag, nicht allein für die dreiköpfige Familie Eichelbaum, deren einziges Kind Putti war, sondern auch für alle Freunde und Bekannten, die zu kürzerem oder längerem Besuch kamen, dazu allerlei Getränke, die samt den passenden Gläsern in den Zwillingstürmen zu beiden Seiten der Anrichte bereitstanden.

      Während mein Vater und ich nur ein wenig naschten, denn zu Hause erwartete uns ja der Sonntagsbraten meiner Mutter, ließ es sich Onkel Curt gut schmecken, empfahl meinem Vater mal ein Stück Gänsebrust, mal eine Entenleberpastete, vielleicht auch ein Stück geräucherten Stör, und trank am Ende der Schachpartie mit meinem Vater einen Cognac, den Onkel Curt, zumal in Kombination mit einer echten Havanna-Zigarre, ganz besonders schätzte.

      Von Onkel Curts Aussehen pflegte mein Vater zu sagen, er wäre Julius Cäsars Ideal eines römischen Senators gewesen – Lasst dicke Männer um mich sein mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen … –, und er hätte auch die dazu passende kühn gebogene Nase.

      Aber Onkel Curt war nicht Senator, vielmehr Rechtsanwalt und Notar. Am schmiedeeisernen Gitter der hohen Eingangstür jenes vornehmen Hauses am Pariser Platz, gleich neben dem Brandenburger Tor und mit Blick auf die Straße Unter den Linden, wo Onkel Curt sein Anwaltsbüro hatte, prangte ein emailliertes Schild, das mich ebenso stark beeindruckte wie das Sonntagsbüfett der Dissidenten. Es zeigte einen Adler mit goldgelben Krallen und einem ebenfalls goldgelben Schnabel, ganz ähnlich der Nase von Onkel Curt, und darunter stand: Preußisches Notariat. Daneben hing ein weißes Porzellanschild mit der schwarzen Aufschrift: Dres. C. Eichelbaum, Justizrat I. Friedmann, R. v. Godin, G. Krauss, Rechtsanwälte.

      Einmal hörte ich meinen Vater zu Onkel Curt sagen, das sei der Goldgruben eigentlich zu viel: ein Notariat gleich Unter den Linden und eine florierende Anwaltspraxis in der teuersten Gegend Berlins.

      »Hast du nicht Angst, damit den Neid der Götter zu erregen?«

      »Höchstens deinen«, meinte Onkel Curt dazu trocken. »Wenn du in der Schule etwas besser aufgepasst hättest …«

      Er beendete den Satz nicht, wohl im Hinblick auf mich, und als ich meinen Vater später fragte, ob man, wenn man bei Herrn Strelow gut aufpasse, Notar werden könne, lachte er nur.

      Puttis Mutter, Tante Lottchen, erklärte mir dann, Onkel Curt wäre im Weltkrieg Offizier gewesen; da hätte man ihm das Notariat nicht gut verweigern können, zumal nach allem, was sie durchgemacht hatten, als ihr Onkel Moritz als Geisel verschleppt worden war.

      Curt Eichelbaum mit seinem Sohn

      Tante Lottchen, zu Puttis und meiner Volksschulzeit eine elegante, gutaussehende Frau von Mitte Dreißig mit wasserblauen Augen und wohlfrisierten blonden Locken, schlank und zierlich, ja, wie alle betonten, »von größter Zartheit«, war zwar auch in Berlin geboren, aber nach dem frühen Tod ihrer Eltern in Ostpreußen aufgewachsen, in dem südmasurischen Kreis- und Garnisonstädtchen Lyck, nur einen Katzensprung weit entfernt von der Grenze nach Russisch-Polen, eben bei jenem Onkel Moritz, der bei ihr Vaterstelle vertreten und sie – so meine Mutter mit leisem Spott – »wie seinen Augapfel gehütet und in Watte gepackt« hatte. Onkel Moritz, ein ebenso frommer wie reicher jüdischer Geschäftsmann und Junggeselle, hatte für das kleine Lottchen außer dem Kindermädchen noch ein Fräulein als Erzieherin angestellt, sie dann unter der strengen Aufsicht einer Hausdame von Privatlehrerinnen und -lehrern sorgfältig unterrichten lassen, schließlich eigens für das Lottchen eine Gesellschafterin engagiert, die sie auf Schritt und Tritt zu begleiten hatte – auch bei einem Besuch, den das knapp 16-jährige Lottchen ihren Verwandten in Berlin abstatten durfte.

      Damals schon lernte Lottchen Onkel Curt kennen, der fast gleichaltrig und glücklicherweise ihr Vetter zweiten Grades war, so dass ihre Gesellschafterin es verantworten zu können meinte, die beiden für Augenblicke allein zu lassen. Das Resultat war eine heimliche Verlobung – heimlich schon deshalb, weil Onkel Moritz sein »Schneeflöckchen«, wie er, später auch Onkel Curt, sein Lottchen nannte, frühestens mit 18 für verlobungsfähig hielt und außerdem Bedingungen stellte, was den Beruf des künftigen Bräutigams betraf: Es kam für ihn allein ein Jurist,