Bernt Engelmann

Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket)


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die Juden waren oder, wie Onkel Curt und Tante Lottchen, von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammten, auch wenn sie christlich getauft oder Dissidenten waren. Ausnahmen gab es nur für Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, die – wenn sie keine Vorgesetzten von Ariern waren – vorläufig weiter ihrem Beruf nachgehen durften.

      »Dein Vater war doch Offizier«, sagte ich zu Putti.

      »Ja, aber nicht an der Front – er hat sich 1914 zwar freiwillig gemeldet, aber sie brauchten ihn als Volljuristen dann im Verwaltungsdienst …«

      Acht Wochen später reisten Curt, Lottchen und Putti Eichelbaum, der nun Richard hieß und einen eigenen Pass hatte, von Berlin ab. Am Bahnhof standen die Freunde und nahmen Abschied. Agnes weinte; es war Puttis zwölfter Geburtstag, und sie hatte ihm nicht mal einen Kuchen backen können! Die große Wohnung Badensche, Ecke Babelsberger Straße war schon vor zwei Tagen leergeräumt worden. Eichelbaums und sie hatten bis zu ihrer Abreise nebenan bei Hirschfelds Aufnahme gefunden. Gestern Abend waren dort plötzlich Männer von der Gestapo, der neuen Geheimen Staatspolizei, erschienen und hatten alles durchsucht, auch Eichelbaums Gepäck. Nur weil Onkel Curt Pässe, Visa und Fahrkarten für den nächsten Tag vorweisen konnte und weil Herr Hirschfeld und dessen Familie schwedische Staatsangehörige waren, hatte die Gestapo schließlich das Feld geräumt.

      »Es war furchtbar«, weinte die sonst so resolute Agnes, »am liebsten würde ich mit den Herrschaften mitfahren, aber der Herr Doktor hat gesagt, das geht leider nicht – morgen mache ich weg von Berlin – ich fahre wieder nach Hause, nach Schlesien …«

      Dann nahm sie ein zweites Mal Abschied von Putti.

      Rechtsanwalt Dr. Krauss, der Tante Lottchen in die Arme geschlossen hatte, sagte plötzlich laut: »Seid froh, dass ihr diesen Dreckstall verlassen könnt! Ich wollte, ich könnte es auch – aber ich komme euch bald besuchen!«

      Ein paar Leute drehten sich erschrocken um und gingen schnell weiter.

      »Hattet ihr Schwierigkeiten mit – mit den Sachen?«, erkundigte sich Herr Goldstaub besorgt.

      Tante Lottchen, sehr blass, die Tränen tapfer unterdrückend, verneinte stumm und deutete mit einer Kopfbewegung auf die weinende Agnes.

      Onkel Curt nahm Herrn Goldstaub beiseite und sagte leise: »Lass uns hier lieber nicht davon reden – aber es ging besser, als man hoffen konnte …«

      Eichelbaums ganze Wohnungseinrichtung samt dem vielen Tafelsilber und anderen Wertsachen, die mitzunehmen Juden nicht erlaubt war, rollte bereits in einem plombierten Waggon gen Süden. Geheime Staatspolizei und Zoll hatten nichts zu beanstanden gehabt. Die Kontrolle war im Lager der Möbelspedition vorgenommen worden. Dort hatte der bei den Behörden als besonders vertrauenswürdig empfohlene nunmehrige SA-Mann Beek – die Schalmeienkapelle war von der SA geschlossen übernommen worden – Stück für Stück mit den Listen verglichen und alles in Ordnung befunden, sodann als erfahrene Fachkraft mit allen erforderlichen Dokumenten, Stempeln und Plomben versehen lassen und auf den Weg gebracht. Von der Zürcher Filiale war der Empfang der Sendung bereits bestätigt worden. Herr Beek selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, Agnes, die ihm bei der umständlichen Kontrolle sehr behilflich gewesen war, sofort zu verständigen, dass alles »richtig angekommen« wäre.

      »Alles einsteigen!«

      Mein Vater umarmte rasch noch einmal seinen alten Freund. »Du hast doch Rückfahrkarten genommen, Curt?«, hörte ich ihn fragen.

      »Na, selbstverständlich, Hans! Was denn sonst?«

      Als sich der D-Zug nach Stuttgart mit Kurswagen nach Zürich in Bewegung setzte, schrien alle durcheinander, winkten mit den Taschentüchern, drückten rasch noch einmal die aus den Fenstern hingestreckten Hände.

      »Auf Wiedersehen«, rief als letzter Putti. Er war schon im Stimmbruch.

      Juli 1933. 26.789 Personen im Deutschen Reich ohne Urteil in KZ-Haft. Viererpakt London-Paris-Rom-Berlin bringt Hitler internationale Anerkennung.

      November 1933. 92,2% der deutschen Wähler stimmen für Hitlers Außenpolitik.

      Januar 1934. Der NS-Einheitsstaat ist perfekt.

      Februar 1934. Aufstand in Wien. Der katholisch-konservative Diktator Dollfuß setzt Militär gegen die SPÖ ein.

      März 1934. In Deutschland beginnt der Autobahnbau, im April wird der monatliche »Eintopfsonntag« eingeführt, die Freizügigkeit bei der Wahl des Arbeitsplatzes wird abgeschafft.

      25. April 1934. Gescheiterter Nazi-Aufstand in Österreich, bei dem Kanzler Dollfuß ermordet wird. Spannung zwischen Hitler und Mussolini auf dem Höhepunkt. Italienische Panzer stehen einmarschbereit am Brenner.

      30. Juni / 1. Juli 1934. Sog. »Röhmputsch«, bei dem Hitler rund 1.000 seiner ältesten Kampfgefährten (und Mitwisser) umbringen lässt.

      2. August 1934. Hindenburg im Alter von 86 Jahren gestorben. Hitler wird sein Nachfolger als Staatsoberhaupt (»Führer und Reichskanzler«).

      Januar 1935. Volksabstimmung im Saargebiet: 90,5% für Anschluss an Deutschland. Die Anzahl der Arbeitslosen im Reich beträgt noch 2,9 Millionen.

       Zürich – Lugano – Como – Mailand – Rom

      Den ganzen 9. Juni 1933, seinen zwölften Geburtstag, verbrachte Putti auf der Eisenbahn. Es war eine lange Fahrt von Berlin über Leipzig, Zwickau, Plauen, Hof, Bamberg, Nürnberg, Ansbach nach Stuttgart und weiter nach Zürich, aber wider Erwarten verlief sie – wie er auf einer Postkarte aus Stuttgart mitteilte – »ganz lustig. Papa erzählte viele ulkige Geschichten von früher …«

      Onkel Curt hatte bereits in Luckenwalde die Reiseflasche mit Cognac geleert und war, nachdem er sie von Putti beim Speisewagenkellner hatte auffüllen lassen und hin und wieder einen Schluck nahm, immer heiterer und gelassener geworden. Die Aufregungen des letzten Abends, die schlaflose Nacht und der traurige Abschied von Berlin und allen seinen Freunden schienen fast vergessen.

      »Denkt nicht mehr daran, was gestern und vorher war«, sagte er, wenn Lottchen wieder nach ihrem Taschentuch zu suchen begann. »Das haben wir jetzt alles hinter uns, und in ein paar Stunden sind wir am Ziel. Wir machen nun Urlaub und freuen uns auf die Sommerfrische. Die Ferien haben schon begonnen!« Dann erzählte er, wie er als Sextaner mit den Eltern in ihr Sommerhaus nach Potsdam gezogen war, das dicht am Park vom Neuen Palais lag. Einmal sei er in diesem Park, wo zu spielen eigentlich verboten war, einem ein, zwei Jahre älteren Jungen begegnet, der sich ihm in den Weg stellte, ihn zu Boden stieß und rief: »Dir werde ich zeigen, wer hier Prinz ist!«

      Aber da wäre plötzlich ein Reiter in weißer Uniform aufgetaucht, blitzschnell vom Pferd gestiegen und hätte seinem Gegner kräftig den Hintern versohlt mit den Worten: »Und dir werd ich zeigen, Oskar, wer hier Kaiser ist!«

      Dies erkläre, hatte Onkel Curt hinzugefügt, seine zeitlebens etwas zwiespältigen Gefühle gegenüber dem Hause Hohenzollern. »Für Prinz Oskar und seine Brüder, die sich für Hitler haben einspannen lassen, habe ich nie etwas übriggehabt, aber Kaiser Wilhelm II. bin ich noch heute dankbar …«

      Kurz vor Nürnberg war er dann eingeschlafen und erst in Stuttgart, wo ihr Kurswagen einem anderen Zug angehängt wurde, wieder aufgewacht, nun nicht mehr zum Spaßen aufgelegt. Je näher sie der Grenze kamen, desto unruhiger wurde er. Er hielt es dann im Abteil nicht mehr aus, begann auf dem Gang nervös auf und ab zu gehen, verschwand schließlich im WC, und als er ein paar Minuten später ins Abteil zurückkam, schien er sich wieder gefasst zu haben.

      Das war schon kurz hinter Singen, und nachdem sie bei Schaffhausen die Grenze zur Schweiz passiert hatten, ohne von den nur flüchtig die Pässe kontrollierenden Beamten im Geringsten behelligt worden zu sein, schloss er erleichtert Frau und Sohn in die Arme.

      »So, nun ist alle Angst vorbei! Jetzt sind wir in einem freien und anständigen Land!«

      Und