Hauptsache war, dass er mich ausgefragt hat, ob Gefahr bestände, dass die Nazis seine Nachtbars und ähnliche Lokalitäten schließen könnten, was ich leider verneinen musste, und ob schon aufgerüstet werde, was er sich erhofft, ich hingegen befürchte und vermute, aber nicht weiß …«
»Und hat er dir ein Angebot gemacht?«
»Allerdings – er schlug mir vor, die komplizierten Vertragswerke, die bisher meine Kollegen Krauss und Godin mit mir ausgearbeitet haben, fortan allein für ihn zu machen und zum halben Honorar! Natürlich habe ich das abgelehnt, aber er hoffte, ich würde es mir gewiss noch anders überlegen – doch da irrt er sich!«
»Gewiss, Curtchen, eine unerhörte Zumutung, aber …«, hörte Putti seine Mutter noch sagen. Dann wurde die Verbindungstür zum elterlichen Schlafzimmer leise geschlossen, und er verstand nicht mehr, was sie noch miteinander besprachen.
Aber er wusste jetzt, dass es mit der Schweiz nichts geworden war und dass er nun rasch Italienisch würde lernen müssen. Ein paar Worte hatte er ja schon von Papa beigebracht bekommen: Un piccolo gelato, per favore! So bekam man ein kleines Eis – aber wie erklärte man dem Mann hinter dem hohen Tresen, dass man ein großes haben wollte, oder zwar keins mit Bananen- und Melonengeschmack, sondern mit Vanille und Schokolade oder Erdbeeren? Leider konnte man, wenn man vor der Theke stand, nicht in die Gefäße sehen und dann auf das Gewünschte zeigen.
Am nächsten Tag fuhren sie weiter nach Como. Diesmal dauerte die Fahrt nicht lange. Die Stadt, die ganz nahe der schweizerischen Grenze an einem schönen See lag, gefiel Putti sehr. Auch stiegen sie wieder in einem Hotel ab, wo alle Deutsch verstanden. Als Erstes schrieben sie dann Ansichtskarten an alle guten Freunde in Deutschland. Papa las vor, was er zu berichten hatte:
Como. Hotel Barchetta, 15. Juni 1933.
Meine Lieben, obiges ist unsere vorläufige Adresse. Wir werden in Como bleiben, zunächst wenigstens, und uns die Post von hier abholen. Wir sind ganz froh, so schwer der Entschluss auch war.
Natürlich sind wir noch nicht ganz zur Besinnung gekommen. Aber die wunderbare Natur und die – innere – Ruhe, die man hier hat, sind schon etwas wert. Wir möchten gern von Euch hören – schreibt also bald!
Sobald wir festeren Fuß gefasst haben, hört Ihr mehr von uns. Wie es beruflich sein wird, habe ich natürlich keine Ahnung. Vorläufig ist es eine Art Sommerfrische – Hochzeitsreise mit Kind.
Herzlichste Grüße und alles Gute
Euer Curt.
»Und was hast du deinen Freunden zu berichten?«, fragte er Putti.
Putti, der noch bei der ersten Karte und über die Anrede Lieber Bernt! kaum hinausgekommen war, überlegte. Schließlich sagte er: »Naja, dass es hier Palmen gibt und dass man vielleicht schwimmen gehen kann, und dass es für mich sehr langweilig ist, weil ich überhaupt keine Freunde habe und erst sehr wenig Italienisch kann …«
Doch dieser betrübliche Zustand änderte sich schon bald. Nach knapp zwei Wochen im Hotel, wo es für Leute, die von ihren Ersparnissen leben mussten, auf die Dauer zu teuer war, fanden die Eltern ein möbliertes Ferienhaus, das zum 1. Juli zu vermieten war, und zogen dorthin um.
Die kleine Villa lag hoch über der Stadt am Monte Maurizio. Eine steinerne Treppe mit Hunderten von Stufen und so schmal, dass sie hintereinander hinaufsteigen mussten, war zu erklimmen, und von oben hatte man eine herrliche Aussicht auf Como und den See, allerdings auch auf eine Seidenspinnerei. Das Rauschen ihrer Spindeln war so laut, dass sie die Fenster schließen mussten, damit sie sich ohne zu schreien verständigen konnten. Puttis Eltern, noch außer Atem vom steilen Aufstieg, sahen sich entgeistert an.
»Du sagtest doch, Curtchen, es sei hier so wunderbar still – nur Vogelgezwitscher und fernes Glockenläuten …!?«
Er nickte bekümmert und schien nachzudenken. Dann rief er: »Richtig! Die junge Frau von der Agentur sagte, sie sei im Augenblick so beschäftigt, dass sie mir das Haus erst abends, nach Geschäftsschluss, zeigen könnte, besser noch am Sonntagvormittag, weil es dann heller sei …«
» … und vor allem ruhiger, weil sonntags die Maschinen abgestellt sind! Wahrscheinlich hat dir die Frau schöne Augen gemacht, und du bist auf ihre Tricks hereingefallen wie einer, der zum ersten Mal zum Jahrmarkt in die Stadt kommt. Und du willst ein Jude sein!?«
»Was heißt hier: wollen?«
Sie lachten noch, als es an der Haustür klopfte.
Putti öffnete, und eine Frau mit einem Blumenstrauß kam herein. »Herzlich willkommen«, sagte sie auf Deutsch und schüttelte ihnen die Hände. »Ich sehe, Sie sind vergnügt. Das freut mich. Ich bin Frau Erbslöh, Ihre Nachbarin. Mein Mann leitet die Fabrik, die solchen Krach macht, aber man gewöhnt sich daran … Ich bin gekommen, um zu sehen, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Wir sind aus Elberfeld, und Sie sind aus Berlin, nicht wahr? Und Ihr Gatte, der Herr Doktor, ist Rechtsanwalt. Jedenfalls freuen wir uns, mal wieder Deutsch reden zu können, und mit so vornehmen und gebildeten Leuten … Glauben Sie mir: Hier lässt es sich gut leben – vor allem ruhiger als jetzt in Deutschland, wenn Sie verstehen, was ich meine … Und Ihrem netten Jungen wird es hier auch gefallen – wie heißt du denn? Richard? Sie werden dich Riccardo nennen, aber das macht ja nichts! Mein Karl, der wird Carlo gerufen – er ist so alt wie du – zwölf, nicht wahr? Er wird sich sehr freuen über einen deutschen Freund gleich nebenan!«
Putti und seine Eltern nach der Ankunft in Como, 1933
Dank Frau Erbslöh, die Lottchen gleich unter ihre Fittiche nahm, gab es keine Haushaltsprobleme und keine Anpassungsschwierigkeiten. Sie besorgte jemanden aus der Fabrik, der den verstopften Ausguss reinigte, die Propangasflasche für den Küchenherd auswechselte und den Warmwasserhahn im Bad mit einer neuen Dichtung versah; sie kannte die Quellen für frische Landeier, Butter, Honig, Bauernbrot und Gemüse, einen guten und keineswegs teuren Friseur und eine zuverlässige Zugehfrau, die einmal wöchentlich gründlich putzte, und sie wusste auch, wo es – unter dem Ladentisch, weil verbotenerweise aus der Schweiz eingeschmuggelt – die bereits in Prag erscheinenden Zeitungen der deutschen politischen Emigranten zu kaufen gab – eine Mitteilung, die Puttis Eltern aufhorchen ließ.
Frau Erbslöh hörte gar nicht auf zu reden, so froh war sie, endlich mal wieder mit, wie sie sagte, »richtigen Deutschen reden zu können, die keine Nazis sind«.
Auch Putti, der eigentlich nur darauf brannte, Karl Erbslöh kennenzulernen und den alles Übrige nicht sonderlich interessierte, war erstaunt über so viel Unbekümmertheit. Frau Erbslöh aber erklärte ganz unbefangen: »Como ist nicht groß – hier wissen die Leute alles über Fremde, die keine Touristen sind. Die Frau von der agenzia, die Ihnen das Haus vermietet hat, sagte schon heute früh zu mir: ›Signora Anna‹ – so nennen sie mich hier –, ›das sind noble, gebildete Leute, ein dottore aus Berlin mit einer eleganten Dame zur Frau und einem Sohn, so alt wie Ihr Carlo. Ihre Möbel sind in Zürich – sie haben gewiss Deutschland verlassen müssen …‹ Und Carlotta, die Sekretärin meines Mannes, ist die Cousine der Dame an der Rezeption des Hotels Barchetta, wo Sie bis jetzt gewohnt haben, und die gewiss einen Blick auf die Ansichtskarten geworfen hat, die Sie nach Deutschland geschickt haben – jedenfalls sagte sie mir, Sie seien ausgewandert … Die Leute hier sind ja so neugierig! Und so froh, wenn jemand kein Faschist und kein Nazi ist … Sie kommen doch heute Abend zu uns auf ein Glas Wein, nicht wahr? Mein Mann freut sich schon sehr darauf! Ach, da kommt ja auch mein Karl, der es nicht abwarten kann, Ihren Richard kennenzulernen!«
Für Putti wurde Como, nachdem Karl Erbslöh ihm alles Interessante gezeigt und sich mit ihm angefreundet hatte, nun tatsächlich zur Sommerfrische und war gar nicht mehr langweilig. Fast vergaß er, dass es für ihn und die Eltern kein Berliner Zuhause, keine Rückkehr zu alten Freunden und zu Agnes mehr gab.
Er wurde nur immer wieder daran erinnert, wenn die Eltern davon sprachen, aber