Keiner schien sich darüber zu wundern.
Der Rolls-Royce-Besitzer zog ein Tütchen mit weißem Pulver aus dem Handschuhfach, streute etwas davon auf einen Spiegel, hackte es mit seiner Kreditkarte klein und formte zwei Linien daraus. Dann rollte er einen Fünfzigmarkschein zu einem Röhrchen, steckte sich das eine Ende in sein rechtes Nasenloch, verschloss das linke mit seinem Finger und zog mit einem energischen Schnaufen eine Pulverlinie in seine Nase. Dann wiederholte er die Prozedur mit seinem linken Nasenloch und reichte sämtliche Utensilien an Dieter weiter. Ich sah gebannt zu, prägte mir jede seiner Bewegungen ganz genau ein. Schließlich wollte ich später keinen Fehler machen. Kokain kannte ich bisher nur aus Filmen und Büchern, dass es Koks auch in meiner unmittelbaren Umgebung geben musste, war mehr als naheliegend, aber bisher hatte ich nichts davon bemerkt.
Der Spiegel und das Tütchen wurden nach hinten gereicht. Wie ein gelehriges Zirkusäffchen hackte ich das Pulver, rollte den Geldschein und schnupfte die weiße feinkörnige Linie; so, wie ich es Minuten zuvor gesehen hatte. Die Härchen auf meinem Arm hatten sich vor Aufregung aufgestellt, aber ich gab mich abgeklärt und routiniert. Niemand sollte meine innerliche Anspannung spüren und mich als Novize enttarnen.
Schon dieses Ritual nahm mich gefangen. Ein magischer Moment – wir waren ein Geheimbund, wagemutige Verschwörer, die die Grenzen der Spießergesellschaft weit hinter sich ließen und sich über die ahnungslosen Trinker im Inneren des Clubs erhoben. Jetzt war ich endgültig in der Welt von Hemingway, Miller, Kerouac und Burroughs angekommen.
Dann knallte das Kokain in mein alkoholisiertes Hirn. Wärme durchflutete mich, breitete sich in meinem gesamten Körper aus. Gleichzeitig erfüllten mich eine große Ruhe und Klarheit. Ich fühlte mich nicht benebelt, wie ich es vom Haschisch und auch vom Alkohol kannte. Im Gegenteil, es war, als hätte ich alle Fesseln abgeworfen.
Mein Denken und Fühlen waren von kristalliner Reinheit und Schärfe, alle Hemmungen waren verschwunden, ich war unantastbar, entgrenzt, auf magische Weise eng mit allem verbunden, mit meinen Mitverschwörern im Auto, meinen Freunden an der Bar, das Koks hatte mich in das Zentrum meines Universums katapultiert. Nach diesem Moment, so schien es, hatte ich mich mein gesamtes Leben gesehnt.
Der Club vibrierte vor Energie. Eine dunkle, warme Höhle, in der nichts Bedrohliches existieren konnte. So ähnlich musste sich der Fötus im Mutterleib fühlen. Meine Füße schienen den Boden kaum zu berühren, die Frauen leuchteten, ich selbst leuchtete, war ein Magnet, der die Menschen anzog, in meinen Bann schlug. Alles war von nie gekannter Intensität. Die Luft flirrte vor sexueller Spannung. Ich flirtete mit jeder Frau in meiner Nähe, alles war purer Sex, jedes Wort, jeder Blick, jede Berührung. Verheißung und Verführung, Kopfpornokino, überwältigend und rauschhaft. Ich war nach Hause gekommen. Angekommen in dem Leben, von dem ich als Teenager gelesen und geträumt hatte.
Begonnen hatte alles mit meinem Umzug nach Köln rund zwei Jahre zuvor. Gegen das studentisch geprägte, aber eher provinzielle Aachen mit seinen Maschinenbaustudenten und seinem chronischen Männerüberschuss war Köln ein Eldorado, in jeder Hinsicht. 1985 zog ich in eine Wohnung in der Breiten Straße im Zentrum der Stadt. Die Straße, gesäumt von Restaurants, Cafés, Kneipen und Geschäften, war für Autos gesperrt. Hier flanierten hauptsächlich Einheimische oder die Köln-Kenner unter den Besuchern, der Großteil der Touristen bevölkerte eher die Hohe Straße und die Schildergasse.
Meine Wohnung war siebzig Quadratmeter groß und lag über einem Café, auf den ersten Blick machte sie nicht sehr viel her: angestoßener Sechziger-Jahre-Chic, zwei Zimmer, ein kleines, aber ordentliches Bad mit hässlich gemusterten Kacheln. Auch die Küche war winzig, aber ich hatte ja nicht vor, darin viel Zeit zu verbringen. Mein Frühstück, ein Croissant und einen Kaffee zur Zigarette, bekam ich im Café im Erdgeschoss, an dessen Hintereingang mein Hausflur anschloss. Schon nach wenigen Wochen stapelten sich die Kuchenteller in meiner Küche. Mittags aß ich meist in den umliegenden Restaurants. Und beobachtete unter meiner Sonnenbrille die Frauen, die vorüberflanierten. Vor allem im Sommer ein Anblick, von dem ich nie genug bekam.
Mein Wohnzimmer bot genügend Raum für ein großes Bücherregal, mein Schlafzimmer ging auf den Innenhof, mit Blick auf ein Flachdach und die Lüftungsschächte des Cafés. In warmen Sommernächten kletterte ich aus dem Fenster, das Flachdach wurde mein persönlicher innerstädtischer Dachgarten. Zugegeben, statt Wiesen, Blumen und Bäumen gab es Dachpappe, Ziegelmauern, Ventilatoren und Metallrohre, aber unter dem Sternenhimmel spielte das keine große Rolle. Urbane Romantik, mit der ich auch bei den Frauen, die ich nachts mit zu mir nahm, punkten konnte. Die Wohnung war ein Hauptgewinn für mich.
In gewisser Weise hatte der Umzug meine Welt verengt: Beinahe alle Wege waren kurz – das WDR-Gebäude, das Büro der Produktionsgesellschaft, mit der ich kooperierte, Studios und Schnitträume, alles war nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Da in den Redaktionen meist nicht vor zehn Uhr gearbeitet wurde, kam ich sogar dann noch pünktlich zu meinen Terminen, wenn ich bis neun oder halb zehn schlief. Frühes Aufstehen hasste ich seit meiner Schulzeit. Zum anderen hatte der Umzug meine Welt wunderbar erweitert. Nach kurzer Zeit wusste ich, in welchen Lokalitäten die sogenannte Szene verkehrte. Ich war neugierig und kontaktfreudig, kam schnell mit Menschen ins Gespräch. Was in Köln zugegebenermaßen nicht besonders schwierig ist – wer hier keine Kontakte knüpft, leidet wahrscheinlich an einer schweren Sozialstörung. Beinahe täglich traf ich interessante und aufregende Menschen, den Schauspieler Jo Bolling, den ich aus der »Lindenstraße« kannte, lernte ich in einem Café kennen, den Sänger und Extremsportler Joey Kelly oder die Entertainerin Hella von Sinnen an der Bar eines Clubs.
Einer meiner engsten Freunde war Tom Gerhardt, ein Lokaljournalist, der Philosophie und Germanistik studiert hatte und von einer Karriere als Comedian träumte. Als ich ihn kennenlernte, spielte er vor dreißig Besuchern, einige Jahre später war er der Star einer eigenen Comedy-Serie im Privatfernsehen. In Köln öffnete sich eine Tür in eine neue, schillernde Welt. Eine, die schier grenzenlose Aufregung und Spaß verhieß, in der alles möglich zu sein schien. In den ersten Wochen und Monaten stand ich noch staunend am Rand, dann tauchte ich immer tiefer in diese Welt ein, kopfüber und mit leuchtenden Augen.
Meine Begeisterung für den Sport hatte ich mir bewahrt. Ich spielte regelmäßig Handball in einer Journalisten-Mannschaft, und am Wochenende traf ich mich mit Carlo oder Dietmar Mögenburg zu einem Tennis-Match, oder wir spielten Basketball mit Sportstudenten und dem späteren Bundestrainer Dirk Bauermann. Danach ließen wir im Wellnessbereich des Interconti die Woche ausklingen und läuteten gleichzeitig das Partywochenende ein.
Das Hotel lag nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt, der Wellnessbereich inklusive Sauna war im obersten Stockwerk untergebracht und, was vielen Kölnern nicht bekannt war, öffentlich zugänglich. Ende der Achtziger hatte, neben zahlreichen Sportlern, die Medienszene die Sauna für sich entdeckt. Ob Verleger, Journalist, Filmemacher oder Sportmanager, hier traf man die interessantesten Menschen. Zusätzlich zur Sauna, den Ruheräumen und der Bar gab es einen Billardtisch, man konnte Backgammon spielen oder sich massieren lassen. Wir spielten um Geld, das erhöhte die Spannung. Ein paradiesischer Ort, in dem Carlo, Dietmar und ich viele Stunden verbrachten. Mein Bruder feierte dort sogar seinen dreißigsten Geburtstag.
Die Hotelsauna fungierte auch als eine Art kollektives Außenbüro, hier wurden Projekte entwickelt und Verträge ausgehandelt, die jeweiligen Mitarbeiter riefen bei wichtigen Belangen an der Bar der Sauna an. Bald hinterließ auch ich die Telefonnummer der Bar des Wellnessbereichs im Büro und bei meinen Geschäftsfreunden. An den Wochenenden war die Interconti-Sauna das Basislager, von dem aus wir in die Restaurants, die Clubs und Diskotheken ausschwärmten.
Mit Dieter, dem Schauspieler, war ich auf der Toilette des Palm Beach ins Gespräch gekommen, einer Diskothek, in der sich allabendlich einige Hundert Jahre Knast versammelten. Uns verband neben der starken Affinität zum Sport vor allem unser Lebensstil – also die Affinität zu hochprozentigem Alkohol, schönen, in der Regel jüngeren Frauen und rauschhaften Nächten. »Es krachen lassen«, wie Dieter unser nächtliches Unterhaltungsprogramm beschrieb, das in der Regel mit einem doppelten Wodka-Tonic am Tresen des Nijinsky begann und, wenn die Diskotheken schlossen, in der nahegelegenen Currywurstbude und schließlich im Klein Köln endete, einer berüchtigten Milieu-Kneipe, angefüllt mit Boxern,