Jörg Böckem

Ausgesoffen


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kam, dass er von einigen Lehrern hart angegangen wurde. Außerhalb der Sportplätze und Trainingshallen war Carlo schüchtern und oft unsicher. Ein sensibler Junge, der unter den Schikanen litt. Das Gymnasium in Eschweiler hatte Angst und Züchtigung zum Erziehungsprinzip erhoben, Schläge waren keine Seltenheit. Dort hatten sie Carlo vor allem Schulangst eingebläut, die sich auf der Realschule nicht besserte. Immer wieder blieb er dem Unterricht fern, manchmal für Tage oder sogar Wochen. Ich deckte ihn. Gemeinsam gingen wir morgens aus dem Haus, und während ich im Unterricht saß, vertrödelte Carlo den Vormittag im Café oder am Flipper. Nachmittags fuhren wir gemeinsam wieder nach Hause.

      Carlo entschied sich, nach der mittleren Reife die Schule zu verlassen und eine Lehre als Großhandelskaufmann zu beginnen. Wirklich glücklich wurde er mit der Entscheidung allerdings auch nicht, unter anderem, da er morgens um halb sechs aufstehen musste, während ich noch weiterschlafen konnte und mich nachmittags mit Freunden auf dem Sportplatz oder im Schwimmbad traf, während er noch im Betrieb schuftete. Als schließlich seine Leichtathletikkarriere, die er mit Besessenheit verfolgte, Fahrt aufnahm, war das eine Erlösung für ihn. Einige Jahre später erwarb er auf dem zweiten Bildungsweg im Rahmen des Begabtenabiturs auch noch die Hochschulreife.

      Absolute Beginner

      »Her damit«, sagte ich und griff nach der Flasche. Es war früh am Morgen, kurz vor Schulbeginn. Wir standen an der Bushaltestelle, ein Klassenkamerad hatte eine Flasche Asbach Uralt mitgebracht. Ich war siebzehn Jahre alt und besuchte die Realschule in Monschau. In der Eifel sind die Wege weit, die Haltestelle des Schulbusses war zwei Kilometer vom Haus meiner Eltern entfernt, die halbstündige Busfahrt führte über Serpentinen Hügel hinauf und hinunter. Ich mochte die Schule, sie war idyllisch gelegen, auf einer Anhöhe mit Blick auf die Stadt. Im Sommer kamen die Touristen nach Monschau, darunter viele hübsche Holländerinnen, die wir mit großen Augen sehnsüchtig anstarrten.

      Alkohol mochte ich nicht. Mein Bruder trank hin und wieder ein Bier nach dem Handballtraining, mir war der Geschmack zuwider. Ich mischte Malzbier darunter. Betrunken war ich noch nie gewesen. Aber hier und jetzt ging es nicht um den Alkohol, nicht um Rausch. Wir scharten uns um die Flasche wie um eine Reliquie. Der Alkohol, der nicht in unsere Hände gehörte, war etwas Fremdes, Verbotenes, Teil einer anderen Welt, der der Erwachsenen. Ich griff sofort zu, während die anderen noch ehrfurchtsvoll staunten. Setzte die Flasche an und trank.

      Es war Wettkampf und Mutprobe, ich war ein großer Kerl, Sportler, stark und zäh und ziemlich erwachsen. Eine Flasche Weinbrand würde mich nicht umhauen. Ich nahm die Flasche erst von den Lippen, als sie zu zwei Dritteln leer war. Das sollte mir erst mal jemand nachmachen! Ich hatte mir angewöhnt, meine Unsicherheit mit großspurigem Verhalten zu überspielen.

      Stolz und selbstzufrieden machte ich mich auf den Weg die Anhöhe hinauf zur Schule. Mit jedem Schritt überflutete der Alkohol meinen Körper mehr. Schwemmte in meinen Kopf. Mir war, als hätte mir jemand einen Helm aus Schaumgummi übergestülpt, alles fühlte sich irgendwie taub an, vernebelt, aber gleichzeitig warm und weich. Die Kälte des frühen Herbstmorgens spürte ich nicht mehr. Meine Arme und Beine wurden schwer, ich bewegte mich wie in Zeitlupe. Als ich schließlich im beheizten Klassenraum saß, erwischte mich der Alkohol wie ein Hammerschlag. Ich war aufgekratzt, hatte alle Hemmungen verloren. Ich gestikulierte wild und redete auf meine Banknachbarn ein. Einer von ihnen zerrte an meinem Arm. »Bernd, du solltest besser rausgehen«, zischte er mir ins Ohr. Was wollte der von mir, ich fühlte mich großartig! Irgendwann dämmerte mir, dass er womöglich recht hatte. Außerdem wurde mir langsam ziemlich schlecht. Es gelang mir, den Arm zu heben und den Lehrer mit halbwegs kontrollierter Stimme darum zu bitten, mich wegen Übelkeit aus dem Unterricht zu entlassen. Da ich nicht in der Nähe der Schule bleiben wollte, entschied ich mich für die Bushaltestelle im Dorf. Der Weg dorthin führte drei Kilometer durch ein Waldstück.

      Ich lief wie auf Autopilot, mein Denken ausgeschaltet, in einem Meer von Weinbrand ersoffen. Ständig fiel ich hin, riss mir die Jeans auf und schlug mir die Knie blutig. Irgendwann versagten meine Beine, Aufstehen, Gehen war unmöglich. Ich kroch über den Waldboden in Richtung Stadt.

      Gegen Mittag kam ich wieder zu mir, auf der Bank der Bushaltestelle. Ich stieg in den nächsten Bus nach Hause. Mein Kopf drohte zu zerspringen, mein gesamter Körper schmerzte. Das hier, war ich mir sicher, war der größte Fehler meines bisherigen Lebens. Ich schwor mir, nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken.

      Der gute Vorsatz hielt nur wenige Monate. Als die Mädchen ins Spiel kamen und aus dem Anschauen unbedingt Anfassen werden sollte, war es vorbei mit der selbstverordneten Nüchternheit.

      In den Siebzigern gehörte der Partykeller zur Grundausstattung so ziemlich jeden Eigenheims. In der Regel waren sie geschmacklos eingerichtet, kiefernholzvertäfelt, mit bunten Lämpchen oder Lichterketten illuminiert. Uns war das Ambiente herzlich egal. Die Partys, die wir dort feierten, dienten in erster Linie als Vorwand, dem anderen Geschlecht zu Leibe zu rücken. Im Dunkeln, versteht sich, alles andere hätte uns hoffnungslos überfordert. Irgendwann schaltete jemand das Licht aus, und dann griffen wir uns ein Mädchen und küssten es. Die besonders Verwegenen unter ihnen ergriffen auch schon mal selbst die Initiative. Im besten Fall gelang es uns, uns zuvor in eine gute Ausgangsposition zu manövrieren, ein Mädchen in Reichweite, das uns besonders gefiel. Aber genau genommen war es zweitrangig, wen wir küssten, wessen T-Shirt wir hochschoben und wessen BH wir lösten. Die Lippen, die Haut, die Weichheit der Brüste zu spüren, in dieses fremde und exotische Hoheitsgebiet vorzudringen, es zu erforschen, war berauschend, Sinne erschütternd. Und riskant, es verlangte eine Menge Wagemut. Mädchen zogen mich magisch an, aber ihre Fremdheit schüchterte mich gleichzeitig ein. Zumal sie mir in den vergangenen Jahren oft unerreichbar erschienen waren, reifer, erwachsener. Viele gleichaltrige Mädchen hatten Freunde, die ein oder zwei Jahre älter waren als ich.

      Schnell fand ich heraus, dass zwei oder drei Bier meine Hemmungen auflösten und mich tollkühn machten. Kein BH-Verschluss, keine Unsicherheit konnte mich mehr aufhalten. Merkwürdigerweise fand ich in den BH-Schalen neben den Objekten meiner Begierde immer wieder auch Papiertaschentücher. Ein Indiz dafür, dass ich nicht der Einzige war, der sich mit Unsicherheiten herumschlagen und vermeintliche Unzulänglichkeiten kaschieren musste. In gewisser Weise eine beruhigende Entdeckung, auch wenn meine Schüchternheit dadurch nicht weniger wurde.

      Am Ende solcher Partys waren meine Sinne häufig vernebelt, nicht nur vom Alkohol. Einmal fiel ich auf dem Nachhauseweg in einen Jägerzaun, eine sehr schmerzhafte Angelegenheit. Aber das war eher die Ausnahme. Der Alkohol spielte in diesen Jahren keine große Rolle in meinem Leben. Er schmeckte mir einfach nicht, außerdem bot mein Leben auch so mehr als genug aufregende und rauschhafte Momente. Ich trank nur, wenn es galt, vor einer Verabredung die Anspannung zu lösen und meine Scheu und die Angst vor einer Abfuhr einzudämmen. Selten waren es mehr als zwei oder drei Bier oder ein Whisky-Cola. Bis Brigitte mich verließ.

      Brigitte war meine erste große Liebe. Sie saß im Französischkurs neben mir, siebzehn Jahre alt, lange, dunkelbraune Haare, große, dunkle Augen und eine aufregend frauliche Figur. Aber das war es nicht, was mich anzog. Zumindest war es nicht das Einzige: Brigitte war neugierig, klug, leidenschaftlich und voller Energie. Sie wollte die Welt verändern oder zumindest den Teil der Welt, in dem sie lebte. Sie war Klassensprecherin und Schulsprecherin, ich ließ mich zu ihrem Stellvertreter wählen. Ich wollte in ihrer Nähe sein. Und sie beeindrucken: Da ich eine Klasse wiederholt hatte, war ich der Älteste in unserem Jahrgang und somit einer der Ersten, die ein Auto besaßen. Einen VW Käfer, den ich in mühsamer Handarbeit schwarz-gelb lackiert hatte. Ich genoss es, morgens mit quietschenden Reifen auf dem Lehrerparkplatz vorzufahren, bestaunt von den jüngeren Mitschülern. In der zersiedelten Eifel mit ihren vielen kleinen Ortschaften, endlosen, verschlungenen Landstraßen und schlechten Bus- und Zugverbindungen war ein Auto ein Fanal des Erwachsenseins und ein Ticket in die Freiheit.

      Dank einer Tankkarte meines Vaters konnte ich im rund vierzig Kilometer entfernten Eschweiler bargeldlos tanken. Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und fragte Brigitte wie beiläufig, ob sie mich nach der Schule zur Tankstelle begleiten wolle. Als sie ja sagte, konnte ich mein Glück kaum fassen. In den Wochen, die folgten, wurde daraus eine Art Ritual. Zusammen fuhren wir nach der Schule tanken, anschließend aßen wir in einem kleinen Restaurant, wer gerade mehr Geld in der Tasche hatte,