Vater hatte ich großen Respekt. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung, beinahe zwei Meter groß, breitschultrig, mit einer lauten Stimme und dominantem Auftreten. Er selbst war ohne Vater aufgewachsen, mein Großvater wurde erschossen, als mein Vater noch ein kleiner Junge war. Auf offener Landstraße, von einer Schauspielerin, die seine Geliebte war. Opa muss ein Lebemann und Hallodri gewesen sein, neben seiner Frau hatte er mehrere Freundinnen. Eine Art Familienerbe, das ich später fortsetzen würde.
Meine Mutter hielt die Familie zusammen und war für die Wärme zuständig, mein Vater für die Regeln und deren Einhaltung. Auch wenn ihm das Wohl seiner Familie über alles ging, war es ihm, wie vielen Männern seiner Generation, kaum möglich, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. In seinen milden Momenten brauchte er nicht viele Worte. Samstags musste ich nach dem »Aktuellen Sportstudio« ins Bett. An manchen Abenden tat er so, als habe er meine Anwesenheit vergessen, trank sein Bier und ließ mich den folgenden Spätfilm ansehen. Am Ende des Films sah er mich verwundert an und sagte: »Du bist ja immer noch hier, jetzt aber ab ins Bett.« Dann gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn, ein Augenblick größtmöglicher Nähe zwischen uns. Sein Atem roch nach Bier. Ich mochte den Geruch sehr. Einer seiner liebsten Wahlsprüche war: »Dummheit frisst, Intelligenz säuft.« Keine Ahnung, wie ernst es ihm damit war.
Früh begeisterte mein Vater meinen Bruder und mich für den Sport und den Wettkampf. Auf spielerische Weise vermittelte er uns Freude an der Leistung. Er veranstaltete für seine Söhne Olympische Familienspiele im Garten hinter dem Haus, wir maßen uns in verschiedenen Disziplinen, Sprint, Weitsprung, Ballwerfen. Jeder von uns bekam die gleiche Anzahl an Preisen, mein Bruder deftige Würste, ich Süßigkeiten. Mal gewann Carlo, mal ich. Zumindest ist das meine Erinnerung. In der meines Bruders hat er so ziemlich alle Preise abgeräumt.
Für meinen Vater waren Leistung und Selbstbehauptung enorm wichtig. Er hatte Jurist werden wollen, aber in der Nachkriegszeit war ihm ein Jurastudium verwehrt geblieben. Er musste Geld verdienen und nahm eine Stelle als kaufmännischer Angestellter an. Beruflicher Aufstieg aber war ohne Studium schwierig, immer wieder wurden bei Beförderungen Kollegen vorgezogen, die ihm statt beruflicher Kompetenz nur einen Universitätsabschluss voraushatten. Das hat zeitlebens an ihm genagt. Mit großem Fleiß, Arbeitseinsatz und Wissbegier versuchte er, dagegenzuhalten. Unser Haus war angefüllt mit Büchern und Zeitschriften. Mein Vater hatte den Spiegel abonniert und Christ und Welt, weiter auseinander konnten zwei Zeitschriften in ihrer politischen Ausrichtung kaum liegen. Ihm, der aus einem repressiven Staat mit Denk- und Sprechverboten geflohen war, lag viel an gedanklicher Freiheit.
Anders als mein Bruder begeisterte ich mich früh für das Lesen. Mit sieben oder acht bekam ich mein erstes Buch geschenkt, Märchen dieser Welt. Ich war wie elektrisiert, all die Bilder in meinem Kopf, die fremden Welten, die ich erkunden, die Abenteuer, die ich erleben konnte! Bücher öffneten mir die Welt. Sicher, auch Fernsehserien wie »Flipper« oder »Bonanza« begeisterten mich, aber es gab ja nur zwei Programme und nur wenige Fernsehstunden am Abend. Die Bücher dagegen luden mich rund um die Uhr ein, mit ihnen auf Reisen zu gehen. Bei schlechtem Wetter saß ich, zur großen Verwunderung meiner Mutter, viele Stunden mit meinen Büchern am Esstisch, regungslos in den Buchstabenwelten versunken. Oft vergaß ich sogar das Essen, die Nutella-Brote, die meine Mutter mir neben die Bücher stellte, hinterließen Flecken auf den Seiten. Las ich ein besonders spannendes Buch, fand ich nicht in den Schlaf, bevor die letzte Seite umgeblättert war.
Mit vierzehn machte ich mich über den Bücherschrank meines Vaters und den Spiegel her. Ich las, was mir zwischen die Finger kam – das Gesamtwerk von Karl May, Bücher von Tolstoi und Dostojewski, Sartre und Camus, Biographien über Napoleon und Michelangelo und Sachbücher über die Nazi-Zeit. Ich war gefesselt, auch wenn ich nicht alles verstand und immer wieder Fremdwörter im Duden nachschlagen musste. Ich begann, die Auseinandersetzung mit meinem Vater zu suchen. Wir stritten über Geschichte, häufiger noch über Politik. Dabei wurde er oft laut, ich hielt dagegen. Mein Vater war ein unduldsamer, manchmal cholerischer Mensch, ich habe sein Temperament geerbt. Am Ende ging es mir wohl darum, mich gegen ihn zu behaupten, eine eigene Identität zu finden, die neben diesem Mann, den ich bewunderte und der mich auch einschüchterte, bestehen konnte. Mir seinen Respekt zu erkämpfen. Er dagegen wollte sich von einem Jungspund ohne Lebenserfahrung nichts sagen lassen und fuhr mir immer wieder über den Mund.
In der Schule legte ich mich immer häufiger mit den Lehrern an. Oft nahm ich aus Streitlust und Neugier eine Gegenposition ein. Weil es mir Spaß machte, den Lehrer zu reizen und, ähnlich wie beim Sport, meine Fähigkeiten zu erproben und meine Grenzen auszuloten. Aber auch, weil ich Standpunkte hinterfragen, die Stärken und Schwächen einer Argumentation erkennen wollte. Vieles war Wettstreit für mich. Manche Lehrer hielten mich für einen nervigen jugendlichen Klugscheißer; andere wiederum, mein Sozialkundelehrer zum Beispiel, honorierten meine Diskussionsfreude mit guten Noten. Zum Glück, denn in naturwissenschaftlichen Fächern war ich ein Vollidiot.
Carlo und ich teilten uns noch als Teenager ein kleines Zimmer, ungefähr vierzehn Quadratmeter groß. Es gab gerade genug Platz für zwei Betten, einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank. Diese erzwungene Nähe war kein Problem für uns, schließlich kannten wir es nicht anders, unsere gesamte Kindheit und Jugend haben wir in einem gemeinsamen Zimmer verbracht. Außerdem trieben wir uns bei gutem Wetter eh draußen herum, auf dem Sportplatz, im Wald oder auf Spielplätzen. Wir waren wie Zwillinge und sahen uns sehr ähnlich. Den größten Teil des Tages verbrachten wir gemeinsam, wir gründeten Banden oder ballerten als Teenager mit unseren Luftgewehren in der Gegend herum. Für unsere Freunde war es eine besondere Attraktion, wenn ich meinem Bruder aus fünf Metern Entfernung eine Zigarette aus dem Mund schoss. Das hatten wir in einem Karl-May-Film gesehen, es hatte uns schwer imponiert.
Gemeinsam trieben wir begeistert Sport, gingen zum Leichtathletik-, Judo-, Tischtennis-, Basketball- und Handballtraining, zeitweise waren wir in fünf Vereinen aktiv. Dafür nahmen wir lange Fußwege oder Fahrradfahrten auf uns. Auch den Konfirmationsunterricht besuchten wir gemeinsam. Als ich wegen einer Verletzung nicht hingehen konnte, beschloss auch mein Bruder, zu Hause zu bleiben. Für ihn eine selbstverständliche Entscheidung, der Pfarrer sah das anders und warf ihn aus dem Unterricht. Daraufhin ging auch ich nicht mehr hin.
Meine Eltern zogen in unserer Kindheit und Jugend häufig um, immer wieder mussten wir unsere Freunde zurücklassen. Besonders schlimm wurde es, als wir 1972 von Eschweiler in unser eigenes Haus zogen, nach Rollesbroich bei Simmerath, ein Dorf in der Eifel, also am Arsch der Welt. Unsere Freunde, unser Bolzplatz, unsere Spielplätze und die Mädchen, die wir heimlich angeschmachtet hatten, dreißig Kilometer weit entfernt. Für Teenager eine Weltreise. Sicher, wir zogen in einen schönen Neubau, umgeben von 10.000 Quadratmeter Grundstück, darauf ein marodes Fachwerkhaus, in dem wir unser Unwesen treiben konnten. Mein Vater hatte sogar ein kleines Schwimmbad neben unser Haus gebaut, und in direkter Nachbarschaft gab es einen Wald und einen See. Aber das interessierte uns nicht, wir wollten unsere Freunde, unsere angestammten Plätze und Straßen nicht aufgeben. Ich hasste die ständigen Abschiede, aber dank Carlo war es auszuhalten. Mein Bruder war da, immer. Er war mein bester Freund, der erste Mensch, den ich am Morgen sah, und der letzte, mit dem ich vor dem Einschlafen sprach. Wir waren ein verschworenes Team. Gemeinsam trotzten wir der Welt.
Gleichzeitig war Carlo immer auch mein größter Konkurrent, nicht nur beim Sport. Bei jeder Gelegenheit wetteiferten wir miteinander, für meinen Bruder war die Tatsache, dass ich ein Jahr älter war und daher ein Jahr vor ihm eingeschult wurde, eine große Kränkung. In unserer Kindheit tröstete er sich mit dem Gedanken, dass ich dann wohl auch ein Jahr früher sterben müsse. Einige Jahrzehnte später sah es lange danach aus, als würde der Alkohol dafür sorgen, dass ich viele Jahre vor ihm abtreten würde. Auch wenn Carlo mich schließlich um fünf Zentimeter überragte, er blieb bei all unserem Wettstreit mein kleiner Bruder, auf den ich aufpassen musste. Ich war vielleicht nicht der Längere, aber der Ältere. Ich mochte es nicht, von ihm getrennt zu sein. Ich blieb ein Jahr länger auf der Grundschule, so konnten wir gemeinsam auf das Gymnasium in Eschweiler wechseln. Als Carlo dann später auf Anraten der Schulleitung das Schuljahr wiederholte, tat ich es im Jahr darauf gleich und der Abstand war wieder egalisiert.
Nach dem Umzug nach Simmerath besuchten wir gemeinsam die Realschule in Monschau. Als ich dann nach der mittleren Reife auf das Gymnasium in Kornelimünster