Jörg Böckem

Ausgesoffen


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sehe, in denen getrunken und ausgelassen gefeiert wird, für einen ganz kurzen Moment melancholisch werde und denke, wie schön war das doch damals! Eine kurze und flüchtige sentimentale Anwandlung, wie die Erinnerung an eine verflossene Liebe, die nach wenigen Sekunden glücklicherweise vorüber ist. Auch wenn ich nicht jeden Tag mit seligem Grinsen durch die Welt laufe, so weiß ich doch, dass mein Leben heute um so vieles besser und reicher ist als in der Zeit der Besäufnisse und Partys, egal wie wild sie waren.

      Heute steht für mich im Vordergrund, anderen Betroffenen Hilfe und Unterstützung anzubieten – was wiederum auch für mich stabilisierend und Sinn stiftend wirkt. Die Menschen in der Gruppe und ihre Zusammensetzung verändern sich, ich verändere mich, ich lerne in der Gruppe ständig dazu und muss mich immer wieder hinterfragen. Langweilig wird es nie. Im Gegenteil, oft fahre ich nach einem Gruppentreffen beseelt nach Hause. Ich habe meinen Platz gefunden, denke ich. Ich weiß, wer ich bin.

      Gier

      Juni 2001: Ich sehe auf meine Uhr. Es ist vier Uhr am Morgen, keine Chance, Schlaf zu finden. Der Entzug ist in meinen Körper gekrochen, hält mich unerbittlich in seinem Griff. Ich, ich habe längst nichts mehr im Griff. Ich richte mich im Bett auf, mein Körper hängt an mir wie ein nasser Sandsack, jede Bewegung eine Qual. Meine Hände zittern, kalter, stinkender Schweiß klebt auf meiner Haut, jede Nervenzelle schreit nach Alkohol. Ich kann diesen Zustand nicht ertragen, keine weitere Minute. In meinem Kopf nur noch ein einziger Gedanke. Schnell jetzt, schnell; ich steige hektisch in die Jeans, die vor meinem Bett auf dem Boden liegen, auf die Unterhose verzichte ich. Dann die Turnschuhe, ohne Socken, nur keine Zeit verschwenden. Mit fahrigen Bewegungen ziehe ich mir ein Sweatshirt und die Jacke über. Fahre mit dem Lift hinunter, raus aus dem Haus, über die Straße. Die nächste 24-Stunden-Tankstelle ist rund anderthalb Kilometer entfernt, ein Taxi kommt nicht in Frage. Die Wartezeit wäre ein Martyrium, der Fahrpreis würde mich eine Flasche Schnaps kosten.

      Ich schleppe mich wie ferngesteuert durch die Straßen. In dieser gutbürgerlichen Wohngegend sind sie um diese Zeit menschenleer, kein Licht in den Fenstern. Die Straßenlaternen, die Wagen am Straßenrand, die Häuser, Garagen, Gärten und Bäume der Kölner Vorstadt sind nur eine Kulisse, durch die ich mich wie ein gequälter Geist bewege. Mit mir und meinem Leben haben sie nichts zu tun. Alles um mich herum ist Kulisse, Staffage, nichts hat Bedeutung, nur der Entzug und die Gier.

      Ich durchquere das Gelände des Einkaufszentrums, die Schaufenster und Wege liegen in völliger Dunkelheit. Einige Tage zuvor habe ich hier mittags auf einer Bank gesessen und meinen Morgencognac getrunken, als ich Barbara, meine Ex-Freundin, mit ihrem neuen Lebensgefährten sah. Eine beschämende Begegnung. Wir haben uns begrüßt, betont freundlich und selbstverständlich, aber ich konnte das Entsetzen in ihrem Gesicht sehen. Danach trank ich die nächste Flasche.

      Mir ist saukalt, ich schlottere, gleichzeitig bricht mir der Schweiß aus. Ich überquere die Aachener Straße. Vier Fahrspuren, der Scheinwerfer eines Autos gleißt in meinen Augen, schneidet in meinen Kopf. Irgendwann sehe ich die Neonreklame der Tankstelle, das Licht in der Dunkelheit, die pure Verheißung. Nur noch wenige Hundert Meter, gleich ist es geschafft. Das Ende der Qualen. Ich beschleunige meinen Schritt.

      Einige Tage zuvor habe ich in meiner rastlosen, Sinne vernebelnden Gier die Tankstelle nicht gefunden, bin Stunden durch die Nacht geirrt, bis ich schließlich durch Zufall vor einer Tankstelle stand. Ein anderes Mal habe ich an der Kasse bemerkt, dass ich mein Geld vergessen hatte, der besessene Drang nach Alkohol hatte alle Gehirnfunktionen ausgeschaltet. Ein Alptraum; die Vorstellung, die Tankstelle ohne Schnaps wieder verlassen und den Weg in meinem Zustand noch zwei Mal bewältigen zu müssen, war unerträglich. Glücklicherweise trug ich meine Uhr, eine Tag Heuer, für die ich wenige Jahre zuvor mehrere Tausend Mark bezahlt hatte. In einem anderen Leben musste das gewesen sein. Ich bot dem Tankstellenangestellten die Uhr als Pfand für eine Flasche Weinbrand an, bettelte schier um Alkohol: »Du kennst mich doch, ich komme morgen mit Geld zurück und hole die Uhr wieder ab, versprochen.« Der Mann ließ sich auf den Deal ein. Ja, er kannte mich, schließlich stand ich jede zweite Nacht hier und kaufte Weinbrand.

      Ich bezahle meine Flasche mit schweißkalten Fingern. Der Verkäufer bedient mich freundlich, wie jeden anderen Kunden. Aber ich bin nicht wie die anderen, ich bin der schlotternde Typ, der in den frühen Morgenstunden Mariacron kauft, mehrfach in der Woche. Der seine teure Uhr für Alkohol verpfändet. Ich fühle mich ertappt, durchschaut. Aber die Gier ist stärker als die Scham, viel stärker.

      In einer dunklen Ecke hinter der Tankstelle, zwischen kargen Büschen, öffne ich die Flasche und trinke. Ich friere in meinen sockenlosen Turnschuhen, unter meinen Füßen der schlammige, kalte Boden. Tagsüber werden auf dem Platz die Autos gewaschen, bei Dunkelheit ist diese verborgene Ecke ein beliebtes Freiluftpissoir. Ich stehe neben der Tankstelle in der Pisse, ohne Unterhose, und saufe billigen Weinbrand aus der Flasche. Mich zurück in meine Wohnung schleppen, den Schnaps in ein Glas gießen und auf meinem Sofa trinken, nicht einmal zu dieser rudimentären zivilisatorischen Anstrengung bin ich mehr fähig.

      Als ich die Flasche absetze, ist sie halbleer. Endlich Ruhe, der Selbstekel heruntergedimmt. Ich mache mich auf den Rückweg. In meiner Wohnung, die kein Zuhause ist, es vielleicht nie war, leere ich die Flasche vollends und falle in einen unruhigen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwache, beschließe ich, mit dem Trinken aufzuhören. So kann es nicht weitergehen, darf es nicht weitergehen. Diesen Entschluss fasse ich beinahe jeden Morgen. Spätestens in der nächsten Nacht stehe ich wieder an der Tankstelle.

      Der kleine Bernd

      Mein Vater machte sich aus dem Staub, als ich zwei Jahre alt war. Zumindest war das die offizielle Version. In Wahrheit hatte er nicht seiner Familie, sondern seinem Land den Rücken gekehrt. Wir lebten damals in Milzau, einem Dorf in der Nähe von Merseburg in Sachsen-Anhalt. 1958, noch vor dem Mauerbau, hatte mein Vater Republikflucht begangen und sich in den Westen abgesetzt. Meine Mutter, die mit uns, ihren beiden Söhnen, in der DDR geblieben war und auf eine Gelegenheit wartete, ihrem Mann zu folgen, musste verschärfte Beobachtung und Repressalien fürchten, wenn bekannt würde, dass sie in die Fluchtpläne meines Vaters eingeweiht gewesen war. Also hieß es, mein Vater sei abgehauen und hätte Frau und Kinder sitzen lassen.

      Meine Mutter, mein dreizehn Monate jüngerer Bruder Carlo und ich lebten bei unserer Oma väterlicherseits. Ungefähr ein Jahr nach meinem Vater machte sich auch meine Mutter mit uns auf in den Westen. Es war kurz vor Weihnachten, »Wir besuchen Freunde in Berlin«, hieß es.

      Aus Angst, ihre Jungs könnten sie bei der Grenzkontrolle unabsichtlich auffliegen lassen, erfuhren Carlo und ich das wahre Ziel der Reise nicht. Meine Mutter hatte nur einen kleinen Reisekoffer mitgenommen, mehr Gepäck hätte an der Grenze Aufsehen erregt.

      Bei der Grenzkontrolle war meine Mutter sehr angespannt und eingeschüchtert. Carlo und ich spürten ihre Angst, auch wenn wir sie nicht verstanden. Von Berlin flogen wir nach Hannover, mein Vater nahm uns dort am Flughafen in Empfang. Ich lief auf meinen Vater zu, nahm ihn fest an die Hand und sagte: »Jetzt haust du aber nicht mehr ab!« Daran hat er sich bis zu seinem Tod gehalten. Mein Vater hatte Arbeit bei der Union Rheinische Braunkohlen Kraftstoffe AG gefunden. Wir lebten in einer Dreizimmerwohnung in Rodenkirchen bei Köln, Carlo und ich teilten uns ein kleines Kinderzimmer. Ich war ein lebhaftes Kind, neugierig und mit großem Bewegungsdrang. Den Erwachsenen, vor allem den Erzieherinnen im Kindergarten, ging ich manchmal auf die Nerven. Daneben gab es Momente, in denen ich selbstversunken und bedürfnislos in meine Spielwelten eintauchte.

      Mit vier wurde ich zum ersten Mal kriminell. Es war im Kindergarten, die Erzieherin hatte mich zur Strafe für ein Vergehen in einem Zimmer eingesperrt. Ich war empört und wütend, fühlte mich ungerecht behandelt. Auf einem Schrank in diesem Zimmer stand eine Tasche, in der Tasche war eine Geldbörse. Ich nahm ein Fünfmarkstück aus der Geldbörse, beseelt von Rachegedanken. Von dem Geld kaufte ich Wundertüten, die ich an die anderen Kinder im Kindergarten verteilte. Bei meinen Freunden kam das gut an, bei den Erzieherinnen und meinen Eltern weniger. Dass ich die fünf Mark auf einer Wiese gefunden hatte, glaubte mir niemand, und als dann das Fehlen des Geldes bemerkt wurde, bekam ich großen Ärger. Meine Eltern waren als Flüchtlinge sehr darum bemüht, sich anzupassen. Ein Vierjähriger, der seine Erzieherin bestiehlt, war ihnen peinlich. Zum Glück für meine Eltern