gescheit ich bin, genau dich gesucht und gefunden zu haben?«
»Ja, das hast du gut gemacht«, scherzte sie, »aber zum Abschluss der Unterrichtsstunde wiederholen wir: Verstehen ist ein Vorgang der Versprachlichung. Ok? Und Begreifen heißt Begriff geben, ja?«
»Ja.«
»Und mit diesen Begriffen systematisch operieren nennt man denken.«
»So einfach ist das, oder?«, sagte ich. »Genial. Gehen wir. Da gibt es nichts zu essen.«
Sie überquerte fast hüpfend die Straße, ihr Blick zuckte nach links und rechts nach dem Verkehr und sie streckte ihren rechten Arm nach hinten in meine Richtung und spreizte die Finger, um mich zu lotsen. Sie hielt auf der anderen Straßenseite vor dem Eingang zu einem kleinen, dreckigen Park, der Mitleid erregte mit dem imaginierten Kind, das hier spielen musste. Er bestand zur Hälfte aus einer asphaltierten Fläche, über die ein fünf Meter hoher Würfel aus Drahtzaun gestülpt war. Zur anderen Hälfte war er ein schwarzbraunes Halbrund aus säuerlich stinkenden Rindenstücken, in dessen Mitte eine traurige Sandkiste lag, daneben eine verrostete, ehemals bunt lackierte Rutsche. Der Park war menschenleer und lag tot unter einer grauen Kruste aus Verkehrsstaub.
Da stand sie nun, in ihrer Hüfte lehnend, mit verschränkten Armen, die Tasche hing ihr von der Schulter und ein Lächeln dehnte ihre Lippen. Lippen, über die bei Bedarf zahlreiche Sprachen geflossen kamen, von denen kein Mensch noch je etwas gehört hatte. Diese Linguistin hatte mir beigebracht, dass es die »Verwortung« war, die einer Wahrnehmung erst ihre Bedeutung gab. Durch Verwortung wurde aus einer Sache erst eine Tatsache.
»Gehst du jetzt mit mir in den Zoo, Frau Lehrerin?«, bettelte ich und sie glitzerte und sagte, »Ja, wir gehen in den Zoo die Grenze anschauen, aber ein anderes Mal.«
»Aber hast du noch was von diesem hochgescheiten Zeugs da, wie vorhin, weißt eh, von der Sprache und alles?«
»Ja, Herr Journalist, ich wollte eigentlich etwas zu deiner Kluft sagen, Herr Star-Reporter.«
Und dann kam es. Ich spürte, dass da jetzt etwas kommen würde und nahm Aufstellung. Diese Michaela Halbmond, die ich wie mit verbundenen Augen aus einem Berg von Unterlagen und einem Heer von Experten gefischt hatte, legte mir den Beweis auf den Tisch, dass meine Ahnungen, auch wenn sie noch so irrwitzig und jenseitig wirkten, nichts als zutreffend waren. Sie belegte, dass Sprache tatsächlich nichts transportierte und Sprachkommunikation de facto unmöglich war. Sie erhärtete nicht nur meinen Verdacht, sie machte aus ihm eine ganz klare Gewissheit. Und Frau Professor Michaela Halbmond war nicht irgendwer. Jowulu-Entdeckerin hin oder her, sie war eine kristallklare Wissenschaftlerin, ausgestattet mit einem messerscharfen Intellekt und nicht von ungefähr eine internationale Kapazität. Und sie neigte kein bisschen zu grenzrealen Absonderlichkeiten, nicht einen Millimeter. Aber was sie hier sagte, war völlig klar: die Wort-Sprache transportierte keinerlei Inhalte. Null. Sie versuchte es gar nicht.
Mit welch mythischer Schüchternheit ich mich meinem Verdacht genähert hatte! Und mit wie viel weniger ich schon zufrieden gewesen wäre. Es hätte mir schon gereicht, nicht glatt zurückgewiesen und ausgelacht zu werden. Doch diese Person legte mir das Vollbild restloser Bestätigung auf den Tisch.
»Sag Baum«, sagte sie mit der Liebenswürdigkeit einer Volksschullehrerin.
»Ok, Baum.«
»Siehst du?«
»Nein. Was?«
»Jetzt hör zu: Wenn du ›Baum‹ sagst, kommt kein Baum aus deinem Mund und fliegt durch die Luft und dringt in mein Ohr. Aber auch dein Bild von diesem Baum kann nicht fliegen. Der Inhalt von etwas Gesagtem wird nicht zugestellt. Nur die Verpackung. Was hier durch die Luft fliegt ist nur ein Wachrufer für deine eigene Vorstellung von einem Baum, die du im Hirn-Archiv gespeichert hast. Wenn ich ›Baum‹ sage, siehst du nicht meinen Baum, sondern deinen eigenen, und der wird immer anders aussehen als meiner, egal, wie genau ich ihn beschreibe. Meine Beschreibung ist nur ein Rezept für den Nachbau aus deinem eigenen Archivmaterial.«
Ich verstand. Alles, was sich beim Sprechen durch die Luft bewegen konnte, war die Luft selbst in deformiertem Zustand, als Klangbild. Luft war elastisch, man konnte sie ausatmen und dabei mit den Lippen Druck- und Dichteschwankungen bewirken und dabei wellenartige Muster erzeugen, die durch den Luftraum davontrieben. Wenn jemand sprach, bewegte sich wellenförmige Luft durch ruhende Luft. Alles, was sich bewegte, waren Wellen. So konnte man Lautbilder in die Luft stempeln wie Rauchringe. Man konnte der Luft etwas sagen und sie sagte es weiter. Ein Windstoß verbog und dehnte das Lautbild, es prallte gegen eine Wand und dann hallten Bruchstücke wider, oft mehrmals, bevor sie sich verloren. Trafen solche Wellenbilder auf einen Empfangstrichter wie das sogenannte Ohr, »hörte« man etwas.
Mir kam meine eigene Begeisterung irgendwie übertrieben vor und ich fragte: »Bin ich so ungebildet, oder ist das alles wirklich so faszinierend? Deine Worte sind so schwerwiegend. Ich glaube dir jedes einzelne, Frau Volksschullehrerin.«
»Du sollst nicht glauben, du sollst verstehen«, sagte die Volksschullehrerin.
»Du sagst doch selbst, das geht nicht.«
»Hör jetzt auf.«
»Also gut: Das ganze Spiel mit dem Baum heißt ›Ich sehe nur, was du nicht siehst‹, oder?«
»Wenn du es so schön sagen möchtest.«
»Genauer gesagt lautet das Spiel der scheinbaren Kommunikation, ›Was ich sehe, wirst du niemals sehen können‹, oder?«
Sie zuckte mit den Schultern: »Ja.«
Alles war noch viel radikaler, als ich angenommen hatte. Ich hatte gedacht, beim Sprechen, also bei der Übermittlung von Begriffen, würden vielleicht Fehler auftreten und es könne etwas verloren gehen. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, was mit dieser Luftpost während des Überfluges passierte. Und da war jetzt die Antwort: Gar nichts. Mit dieser Luftpost passierte gar nichts. Es gab keine Luftpost. Die Aussage eines anderen zu verstehen, war pure Illusion.
Michaela Halbmond hatte nur den seltsamen Einwand, dass das normal sei. Und dass man eben nicht so übertrieben genau hinschauen dürfe.
Was? Konnte man denn übertrieben genau hinschauen? Ich meine, alles, was diese Frau sagte, zog mich an und nahm mich ein. Doch ich sollte nicht genau hinschauen? Tut mir leid, große Expertin, ich schaue aber genau hin. Und zwar ganz genau. Und ich hatte nicht vor, weniger als ganz genau hinzuschauen. Wegen nichts anderem war ich da.
Ich sah ihre Seidenlippen, wie sie sich in Zeitlupe bewegten, diese scharf gezeichneten, großen Lippen mit den Fältchen und Plättchen, wie sie stumm nach vorne kamen, einen Trichter bildeten, sich weich aufeinanderlegten, wieder aufgingen, zurückwichen, sich schmal machten und in die Breite spannten.
»Aber das ist normal«, sagte sie.
»Es ist normal, dass nichts, was Menschen je gesagt haben, je bei einem anderen Menschen angekommen ist? Dass nichts jemals so verstanden wurde, wie es gemeint war, aber alle dachten, es richtig gesagt und richtig verstanden zu haben?
»Ja«, sagte sie, »wenn man es allzu genau nimmt.«
Das war ja das Beste. Allzu genau. Ich berührte ihre Hand wie um sie zu beknien, doch vernünftig zu sein: »Aber das heißt doch, dass Menschen nie miteinander reden, sondern immer nur nacheinander abwechselnd jeder mit sich selbst.«
Sie musste lachen. »Ja«, sagte sie, »das klingt so witzig, aber es stimmt.«
Der Übermittlungsvorgang war es einfach nicht. Es lag kein technisches Problem vor. Der wahre Grund war verletzend banal: Es war der allgegenwärtige Irrglaube, Sprache könne etwas, was sie einfach nicht konnte.
»Bist du sicher, dass das kein Grund zur Aufregung ist?«, fragte ich.
Michaela lächelte nur. Sie ließ mich leben. Sie nahm mich ernst, obwohl ich verrückt sein musste. Sie teilte ihr großes Wissen mit mir, aber sie ließ mich einfach. Ich hatte es in dieser Redaktionskonferenz einfach so dahinbehauptet, ich hatte gelogen und schön knallig zugespitzt. Aber jetzt war klar: Meine erfundene