Emil Bobi

Abara Da Kabar


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Mysterium Mensch zurückzuweichen. Einer Faszination, die mit der eigenen Unbekanntheit einhergeht und dem Scheitern etwas Versöhnliches gibt. Nun: Was ist daran so schwierig, einen Menschen zu verstehen? Was macht diese Unbegreiflichkeit aus?«

      Ich schwieg. Der Mann sprach mir aus der Seele. Alles, was er sagte, klang wie ein Vermächtnis, das er noch schnell übergeben musste.

      »Schaut man sich unaufgeregt an, was dieser Mensch alles kann«, holte er aus, »betrachtet man seine Talente und sein Potenzial, dann wird diese gegenseitige Unbegreiflichkeit selbst zu einem Rätsel. Dieses Wesen Mensch verfügt über Fähigkeiten, die es zu einem unheimlichen Fremdkörper in der Natur gemacht haben. Es operiert mit einem Denkorgan, dessen gigantische Aktivitäten von absoluter Beispiellosigkeit sind. Gespeist von einem Netz unterschiedlichster Wahrnehmungs- und Überwachungssysteme, die in millionenfacher Gleichzeitigkeit alles und jedes an dieses seltsame Organ übermitteln, welches alles und jedes aufsaugt, abbildet, einstuft, vergleicht, speichert und es in Bereitschaft für einen Wiedereinsatz bringt, dessen Voraussichtlichkeit es schon berechnet hat. Einem Organ, das sich selbst ununterbrochen auf den neuesten Stand bringt und sein eigenes Potenzial immer weiter steigert.«

      Pflug nahm sich mit einem schnellen Griff die Brille wieder von der Nase und richtete seinen Oberkörper ruckartig auf. »Nun frage ich«, sagte er, »was hindert den Besitzer und Benützer einer solchen Intelligenz-Fabrik daran, einen artverwandten Besitzer einer gleichen Intelligenz-Fabrik richtig zu begreifen? Was macht diesen Intelligenz-Fabrikanten so begriffsstutzig, dass er beim Erfassen eines ihm selbst sehr ähnlichen Fabrikanten-Kollegen aufgeben und auf armselige Ersatz-Etiketten ausweichen muss? Er muss ihn als tiefsinnig oder hintergründig bezeichnen, obwohl das Begriffe sind, die zwar Großes suggerieren, aber nichts aussagen, außer, dass man nichts verstanden hat? Was zwingt uns, den Menschen hilflos über seine weißen Flecken zu identifizieren und ihn letztlich als Rätsel hinzunehmen?«

      Ich wusste die Antwort, aber ich sagte nichts. Ich wollte auf keinen Fall seinen Redefluss unterbrechen. Ich musste hören, wie das weiterging. An uns vorbei strömten Gäste, die die Buchpräsentation verließen. Manche verabschiedeten sich beim Professor mit einem Nicken oder einer erhobenen Hand. Michaela und Florence waren nicht dabei. Ich warf einen Blick die Stiege hinauf, aber sie waren nicht zu sehen. Sie mussten noch in diesem Festsaal sein. Ich konnte sie doch nicht beim Vorbeigehen übersehen haben.

      Der Professor fuhr fort: »Da ist also dieser aufgerichtete Zweibeiner, der sich einmal auf die Hinterläufe gestellt hat, um ein Männchen zu machen und seither nie wieder aufgehört hat, Männchen zu machen, und wir durchschauen seine Männchenmacherei einfach nicht, obwohl wir selber die gleichen Männchen machen.«

      »Wenn sie erlauben, habe ich dazu eine Frage«, sagte ich. »Könnte es sein, dass es nicht an unserer Intelligenz liegt, sondern daran, dass wir keine passenden Begriffe finden, den Menschen richtig zu fassen, ihn treffend zu verbegrifflichen? Könnte es nicht daran liegen, dass wir uns also einfach nicht »denken können« wie er ist und es daher an der misslingenden Versprachlichung unserer Eindrücke scheitert?«

      Noch bevor der Professor antworten konnte, riss meine höfliche Zurückgenommenheit: »Wäre es nicht möglich, dass alles umgekehrt ist? Mir scheint, wir halten den Menschen für ein Mysterium, dabei ist nicht der Mensch das Mysterium, sondern seine Sprache. Nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern die Sprache und nichts als die Sprache.«

      Er wartete darauf, dass ich weiterredete. Nachdem ich einige Atemzüge geschwiegen hatte, sagte ich: »Ich habe da oben heute so manchen interessanten Menschen getroffen und alle sind auf einer glaubhaften Suche. Aber, wenn ich Ihnen als Laie mit meinen profanen Wortspielereien nicht zu nahe trete, Herr Professor, was suchen diese Forscher denn, wenn nicht passende Worte? Sie suchen eine Sprache für die Sprache. Und wäre es denn so unmöglich, dass das Problem weniger vom Forschungsgegenstand ausgeht als vielmehr vom Untersuchungsinstrument?«

      Der Linguisten-Greis blickte verschwommen auf und lächelte ermunternd auf meine Jugend hin, als wollte er sagen, mach nur, lauf los, ich bin zu alt dafür. Und ich wollte in diesem Lächeln etwas wie Gerührtheit entdeckt haben. Möglich, dass ich mir das eingebildet habe. Er war ein kultivierter Mensch, der alles leben ließ und mit Höflichkeit bediente.

      Draußen auf der Straße, als der Nachtwind durch meinen Kopf blies und die Bilder dieser Veranstaltung wie Laub aufwirbelte, beschloss ich, zu Fuß nach Hause zu gehen, obwohl die Strecke gut vier, fünf Kilometer betrug. Ich mochte diese Linguisten-Gesellschaft. Auch, aber eigentlich gerade weil sie mit so viel Ehrlichkeit im Dunklen tappte und das innere Wesen ihres Forschungsgegenstandes sich ihrem Zugriff so entschieden entzog. Sie befasste sich mit der Karosserie der Sprache, hatte ihre Motorhaube geöffnet und hantierte staunend an einem fremdartigen Triebwerk herum. Ein weltweites Heer von Fachleuten diskutierte frei zusammengebaute Thesen, deren Substanz sich darauf beschränkte, nicht widerlegbar zu sein. Zig Fachzweige waren entstanden, Zigtausende Bücher geschrieben und Tausende Lehrstühle weltweit eingerichtet worden. Abertausende Forscher hatten ihre Antennen ausgefahren. Doch eine Gesetzmäßigkeit, nach der Sprachen entstanden, sich entwickelten und wieder untergingen, war nicht zu erkennen. Also setzte sich die Meinung durch, es gäbe keine Gesetzmäßigkeit und alles passiere zufällig, chaotisch. Das Rätsel »Sprache« war so rätselhaft, dass die Fachwissenschaft nicht einmal wusste, wie und wonach sie eigentlich genau fragen sollte. Jede klare Antwort machte sich da verdächtig. Ich meine, Antworten gab es endlos viele. Doch nur von Fremddisziplinen, die für nichts verantwortlich waren, aber den Mund offen hatten. Was sie hervorbrachten, war meisterhaft aus der Luft Gegriffenes, virtuose Fantastereien. Schöne, vernebelte Luftschlösser. Da gab es viele großartig formulierte Aussagen aus hochintellektuellem Unverständnis. Manche wollten die Sprache in eingeschüchterte Reimchen-Poesie zwängen (»Ich fürchte mich so sehr vor der Menschen Wort«, der arme kleine, große Rilke). Ich meine, es gab schon auch Pragmatiker, die wussten, dass Sprache etwas mit Krieg und Frieden zu tun haben musste und sie arbeiteten an der Realisierung einer Utopie: Sie versuchten, eine Einheitssprache für die Menschheit zu konstruieren, gedacht für den Frieden der Welt, wie sie sagten, denn dass Gott die Menschen in so vielen verschiedenen Sprachen aneinander vorbeireden ließ, war keine schöne Vielfalt, sondern die reine Geißel. Aber niemand wollte die seelenlose Sprache vom Reißbrett sprechen. Sie hätte auch kaum die allgemeine Sprachverwirrung behoben, denn die Sprachverwirrung trat nicht nur zwischen verschiedenen Kultursprachen auf, sondern auch innerhalb ein und derselben. Jeder einzelne Mensch sprach seine eigene unübersetzbare Weltsprache, die nicht nur von allen anderen Sprachen verschieden war, sondern auch von denen anderer Menschen innerhalb derselben Sprache. Es gab nicht siebentausend Sprachen, sondern acht Milliarden.

      Ich überquerte die Wienzeile und kam meiner Wohnung näher. In meinem zunehmend durchlüfteten Kopf klangen Sektgläser nach und Bilder von angeregt plaudernden Menschen flackerten wie in einem alten Stummfilm.

      Mir war bewusst, dass mein Verdacht von der funktionsuntauglichen Sprache einigermaßen radikal war, hoch veränderungsschwanger und zu unruhig für eine konfliktscheue Gesellschaft, die dermaßen an Ordnung hing, dass sie sich auch mit einer Illusion von Ordnung zufrieden gab. Aber wenn ich recht hatte, stand die Welt Kopf. Und ich hatte recht. Die Welt stand Kopf. Zwei Tage später kam die Bestätigung.

       7

      Zwei Tage später: Ich saß hoch über dem Urban-Loritz-Platz, vor der Hauptbücherei, knapp unterhalb des Gipfels einer Pyramide aus weiten, steilen Steinstufen, die etwas Aztekisches hatte. Ich blickte hinunter auf den Platz, der in der Nachmittagssonne lag. Das weiche Glockengebimmel der eintreffenden Straßenbahn entstieg dem Donner des Straßenverkehrs wie akustische Seifenblasen.

      Eine glückstrahlende Japanerin fragte, »sprichst du Deutsch?«, und ich nickte. Dann nickte auch sie. »Ist das die Stadtbücherei?«, fragte sie begeistert. »Ich glaube«, sagte ich, »ja. Hauptbücherei. Aber ob das dasselbe ist, weiß ich nicht.« Die Japanerin nickte hastig, ging aber nicht in die Bücherei, sondern trippelte die Stufen hinunter und ihr schwarzes, glattes Haar flatterte im Rhythmus ihrer Schritte. Wie auf der Flucht überquerte sie die Straße im Zickzack zwischen den sich zäh dahinwälzenden Autos und erreichte die bereits eingefahrene Straßenbahn