Emil Bobi

Abara Da Kabar


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Nietzsche zertrümmerte die gesamte Sprachromantik mit wenigen Hieben: Die Sprache sei ein Instrument der Lüge und diene zur Vertuschung eigener Verwerfungen. Und einige Mystiker unterstellten, die Sprachenvielfalt diene zur Verhinderung von Kommunikation.

      Aber wirklich sicher waren nur die Priester. Sie wussten es. Die Sprache war ein Geschenk Gottes und die Sprachverwirrung zu Babel eine Strafe desselben. Und so war das Thema das gesamte Mittelalter unter priesterlichem Verschluss geblieben, bis im späten achtzehnten Jahrhundert erste Mutmaßungen offen ausbrachen, die Sprache sei ein Werk des Menschen. Der Mensch selbst habe sie erfunden und entwickelt. Wahrscheinlich durch Nachahmung von Naturlauten in Verbindung mit körperlichen Zeichen und Gesten. Die Linguistik war geboren.

      Ich versank in den Recherche-Unterlagen. Nach drei Tagen war ich eingeraucht mit Sprachgeschichte. In meinem Kopf drehten sich Satzfetzen, die sich selbstständig gemacht hatten. Am frühen Morgen nach der dritten Nacht, ich war halb wach und hörte die Vorgänge in meinem Hirn mit großer Lautstärke, da fügten sich einzelne herumschwirrende Brocken zu einer sauberen Ordnung und ergaben plötzlich ein Bild, das ich zu erkennen glaubte. Ich dachte den Grund für die Angst der Priester zu sehen und ich sah die Gefahr, die es für sie bedeutete, wenn ihnen Fragen nach der geheimnisvollen Macht der Laut-Kombinationen gestellt wurden. Mir leuchtete ein, wie sehr die Menschwerdung selbst, jawohl, die Menschwerdung und nichts Geringeres als die Menschwerdung, mit der Aneignung von Sprache einherging. Was Sprache konnte, lief darauf hinaus, dem Gott der Priester die Erschaffungskompetenz zu entziehen.

      Schon klar, nicht alles, was es gab, war auch nachweisbar, aber alles, was nachweisbar war, gab es auch wirklich. Und sie, die Sprache, war es nun einmal nachweislich gewesen, die im Hirn des Menschen eine Kette neuer Fähigkeiten aktiviert hatte, die ihn, den Menschen, allen anderen Wesen der Natur so konkurrenzlos überlegen macht. Diese Kettenreaktion war die Mutter aller Kettenreaktionen und sie war eine Nebenwirkung der Sprache.

      Eine Faust schlug gegen meine Wohnungstür. Ich stieg aus dem Bett. Der Gasmann begehrte Einlass, als hätte er einen Durchsuchungsbefehl. Ich hatte die vorgeschriebenen Wartungsarbeiten an der Gastherme nie durchführen lassen, musste nun glaubhaft lügen und war dankbar, dass die Sprache vorsätzliche Unwahrheiten zuließ. Furchtbar die Vorstellung von einer Sprache, die wie ein Geheimdienst in meinem Kopf saß und mich daran hinderte, mich zu verstecken. Aber dann griff ich zur noch einfacheren Lösung. Ich öffnete nicht.

      Ich hatte wirklich zu tun. So war das also mit der Sprache, dachte ich. Hochinteressant. Was von all dem Gelesenen am besten ineinander passte, machte ich zu meiner Meinung. Ich trank kalten Kaffee. Ich kratzte in Tomatensauce eingetrocknete Nudelreste vom Rand der Pfanne. Ich starrte aus dem Fenster.

      Meine Recherche bekam Eigendynamik. Eines ergab das andere und so hantelte ich mich immer weiter in einen Stoff hinein, in dem es wie in einem Schlund immer tiefer nach unten ging und ich bald das Gefühl bekam, selbst verschluckt zu werden. Ich telefonierte drauf los, fixierte Gesprächstermine, hinterließ Nachrichten, ersuchte um Rückrufe, verschickte Mails mit allgemeinen Fragen, bat um Interviewtermine oder um Hinweise auf mögliche Gesprächspartner. In einer der Zeitungsgeschichten, auf die ich gestoßen war, fiel mir die Sprachhistorikerin Michaela Halbmond auf, weil sie aus Wien stammte und mit dabei gewesen war, als man in den Achzigerjahren in Westafrika eine unbekannte Sprache entdeckt hatte. Eine Sprach-Entdeckerin also. Gleich hier um die Ecke. Am Institut für Linguistik fand sich jemand, der mir ihre Telefonnummer verriet. Ich wählte sie. Besetzt.

      Sprachentdeckungen waren mehr als selten geworden. Die junge empirische Wissenschaft hatte innerhalb eines Jahrhunderts alles fast restlos wegentdeckt. Sie registrierte Abertausende lebende Sprachen, verglich und katalogisierte sie, definierte ihre baulichen Strukturen und gliederte sie über grammatische, semantische oder lexikalische Ähnlichkeiten in Familien, Gruppen und Untergruppen und entschied, ob ein Einfluss etwa balto-slavisch oder vielleicht indo-iranisch war.

      Ich wählte die Nummer von Michaela Halbmond. Es war besetzt. Ich schrieb an Noam Chomsky, dann schrieb ich an Salikoko Mufwene. Als ich auf Senden drückte, läutete mein Telefon und einer jener Sprachexperten im weitesten Sinn, die ich anfangs nicht erreicht hatte, rief zurück.

      Er war ein Geistlicher und ein besonderer Mensch. Seit vielen Jahren hatte er mich mit vertraulichen Informationen aus der Kirche versorgt, die sich bei Überprüfung stets auf Punkt und Beistrich bestätigten. Er war ein erbarmungsloser Kirchenkritiker, denn er wollte sich seine Kirche nicht von jenen nehmen lassen, die sie veruntreuten. Wenn er den Vatikan bloßstellte, kam das ganz ruhig und ohne Feindlichkeit daher, aber es rollte tonnenschwer über Rom hinweg. Akademisch sehr hoch gebildet und mit uralten griechischen und lateinischen Originaltexten belesen, hatte er sich von der realen Zeit so abgewendet, dass er im echten Leben seltsam deplatziert wirkte. Fast wollte man eine Persönlichkeitsstörung vermuten, wenn man nicht bemerkte, dass es seine ausgeprägt kindliche Unerfahrenheit war, die ihn so weltfremd machte. Er wirkte wie ein Untoter, wie das lebende Relikt eines Gelehrten aus einem vergangenen Jahrhundert. Auch seine Demut hatte etwas Kindliches und man spürte, dass dieser Mann sich eher verbrennen lassen würde, als seine Werte zu verraten. Er war ein faszinierender Pakt zwischen großem Wissen und tiefer Ahnungslosigkeit. Und er befand sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium seiner Alkoholsucht.

      Diesmal hatte ich ihn aus zwei Gründen angerufen. Zum einen wollte ich ihn bitten, mich mit einem ihm persönlich bekannten Priester in Kontakt zu bringen, der ausgebildeter Exorzist war. Einer, der mit der Kraft der Sprache gegen den Teufel vorging. Einer, der die Sprache direkt als Waffe einsetzte. Und das nicht etwa auf dem Niveau des Bundeskanzlers, der mit gebrochener Muttersprache einen weinerlichen Lügen-Wahlkampf führte. In der Praxis der rituellen Austreibung gottesfeindlicher Besessenheit ging es ein bisschen anders zu als in der SPÖ-Wahlkampfzentrale. Exorzismus war seit eh und je selbstverständlicher Teil der kirchlichen Realität gewesen und so hatte der Papst erst unlängst daran erinnert, dass jede Diözese über mindestens einen Exorzisten zu verfügen habe. Das Fach der Vertreibung böser Geister wurde in Rom gelehrt und es äußerte sich in der Praxis nicht immer in angstkreischenden Wahnsinnigen mit schwarzen Ringen um blutunterlaufene Augen, in denen der Teufel wütete, in Abscheu vor dem Kreuz, das ihm der Exorzist unter Gemurmel von Bannsprüchen entgegenhielt. Viel öfter waren die Eingriffe der religiösen Psychotherapie wenig spektakulär. Schon ein schlichtes Gebet um Heilung durch den Schöpfer war Exorzismus. Herr, sprich nur ein Wort, und meine Seele wird gesund. Das Wort, das gesund macht. Das frei macht von Schmerz. Das Wort als Kraft. Die Sprache des Herrn. Also: Die Sprache.

      Zum anderen ging es mir diesmal auch um meinen Vertrauensmann selbst, denn dieser Mann verfügte über etwas sehr Erstaunliches, über das er auch offen reden hätte können. Er beherrschte sage und schreibe sechsundvierzig Sprachen. Er sprach fließend Latein und sogar ganz gut Aramäisch, die Sprache des Jesus von Nazareth. Aber das war noch gar nichts. Er sprach Kadugli, Bijago, Mbulungisch-Nalu, Senegambisch, Limba, Mansonaka, Kulere und Bantu aus der Niger-Kongo-Familie. Er konnte nilo-saharische Sprachen wie Kuliak, Gumuz, Kunama und Songay. Er beherrschte sino-tibetische, austronesische und altaische. Von seinen Lippen rollten Turksprachen wie Tschuwaschisch, Tofalarisch und Jakutisch. Mongolische wie Dagur oder Kalmückisch. Tungusische Sprachen wie Orochisch, Evenkisch oder Negidalisch. Aus irgendwelchen Winkeln und Ecken seines unheimlichen Gehirns fischte er malayo-polynesische Lautketten hervor, maduresische, jakunische, perakanische und semedonische. Er konnte Bima-Sumba. Er konnte Algonkin, Sprachen der Oto-Mangue-Gruppe wie Chibcha, Tupi, Quechua oder Irokesisch. Und Pidgin-Sprachen, diese verbogenen, verstümmelten Mischsprachen, die sich aus Kolonial- und Eingeborenen-Sprachen zusammensetzten und von den Folgegenerationen alter Sklaven gesprochen wurden. Er sprach Zwergsprachen, die von weniger als tausend Sprechern benutzt wurden und von denen noch kein normaler Mensch je etwas gehört hatte.

      Ich lag am Bauch vor ihm. Mich faszinierten Sprachkenntnisse. Ich hatte davon geträumt, noch in diesem Leben fünf, sechs Sprachen zu beherrschen und schaffte es gerade einmal bis eindreiviertel plus Begrüßungsbrocken in dieser und jener. Dieser Mann hatte über Jahre unserer Bekanntschaft seine unglaublichen Kenntnisse mit keinem Wort erwähnt. Bis wir einmal gemeinsam im Park saßen, nachdem er mich angerufen hatte, weil er in der Bibliothek des Priesterseminars einen vierhundert Jahre alten Wälzer entdeckt hatte, den er mir zeigen wollte. Der Text war auf Mandarin und weil er so selbstverständlich vorlas