dressierten Mann. Stolten hat Vilar nie getroffen, über welche Pfade das Büchlein in ihre Hände geraten ist, lässt sich nicht mehr ergründen. Aus politischer Sicht ist Stolten eine unverdächtige Rezensentin. Die bekennende Sozialistin und Frauenrechtlerin steht beileibe nicht im Ruch einer Konservativen. Trotzdem lässt sie sich von Vilars Thesen derart begeistern, dass sie sich diese gleich zu eigen macht. Stolten ergänzt ihre Buchbesprechung mit einer Untersuchung der bekannten französischen Frauenrechtlerin und Soziologin Evelyne Sullerot, die im Laborversuch bestätigt, was Vilar empirisch zusammengetragen hat. Sullerot hatte eine Gruppe von zufällig ausgewählten Studentinnen und Studenten gebeten, einen Tag in ihrem Leben als 50-Jährige zu beschreiben, so wie sie ihn sich im Idealfall vorstellten. Die jungen Männer schrieben alle über ihren Beruf, die Frauen sahen sich ausnahmslos als Mütter und Hausfrauen. Und keine fragte sich, ob für diese Rolle wirklich ein Universitätsstudium nötig sei.
Zwei Wochen nach der Rezension von Stolten vermeldet der Stern, dass der dressierte Mann nun doch einen großen Verlag gefunden habe und im Januar bei Bertelsmann erscheine.
1971 ist ein bewegtes Jahr. In Vietnam startet das letzte Flugzeug mit dem berüchtigten Entlaubungsmittel Agent Orange, während Ex-Beatle John Lennon sein erstes Soloalbum (Imagine) lanciert; in der DDR wird Erich Honecker zum Ersten Sekretär der Zentralkomitees der SED ernannt, in Uganda übernimmt Idi Amin Dada nach einem unblutigen Putsch die Macht, in Persien lässt der Schah Reza Pahlavi 2500 Jahre Monarchie feiern, in Chile verstaatlich Präsident Salvador Allende sämtliche Kupferminen entschädigungslos (zwei Monate später wird er von General Augusto Pinochet gestürzt); das Kurzhaar-Obligatorium bei der deutschen Bundeswehr wird abgeschafft, für Langhaarige gilt aber eine Netzpflicht; die BRD-Post weigert sich, DDR-Briefmarken mit Motiven wie Antifaschistischer Schutzwall oder Unbesiegbares Vietnam abzustempeln, der Transitvertrag zwischen Ost- und Westdeutschland kommt trotzdem zustande; in New York gewinnt Joe Frazier den Weltmeistertitel im Schwergewicht gegen Muhammad Ali nach Punkten, der Belgier Eddy Merckx gewinnt zum dritten Mal in Folge die Tour de France; in Hamburg und Kaiserslautern ermorden Mitglieder der »Baader-Meinhof-Bande« (RAF) die Polizisten Norbert Schmid und Herbert Schoner; Heinrich Böll lanciert seinen Bestseller Gruppenbild mit Dame; die UNO nimmt China als Mitglied auf und schließt gleichzeitig Taiwan aus, Bangladesch trennt sich von Pakistan; in Ägypten wird der Assuan-Staudamm eingeweiht, in der UdSSR stürzt das Raumschiff Sojus 11 nach erfolgreicher Mission beim Landeanflug ab, die dreiköpfige Besatzung stirbt, die amerikanische Apollo 15 landet dagegen sicher, obwohl sich einer der Fallschirme nicht öffnet; in Kanada wird Greenpeace gegründet, in Genf die internationale Hilfsorganisation Médecins sans frontières (Ärzte ohne Grenzen); in den USA wird die Rundfunkwerbung für Tabak verboten, der holländische Programmierer Ray Tomlinson verschickt das erste E-Mail der Geschichte und benutzt dabei erstmals das »Affenschwanz-Zeichen« (@); in Frankreich erklären 343 Frauen, unter ihnen Größen wie Simone de Beauvoir, Françoise Sagan, Catherine Deneuve und Jeanne Moreau, öffentlich »Ich habe abgetrieben!«, in Deutschland kopiert die Zeitschrift Stern die von Alice Schwarzer initiierte Protestaktion für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs mit einem legendären Cover (Größen wie Senta Berger, Romy Schneider oder Lis Verhoeven outen sich); in der Schweiz beschließt die Mehrheit der männlichen Stimmbevölkerung (65,7 Prozent), den Frauen das aktive und passive Stimmrecht zu gewähren (wobei acht Kantone die Vorlage ablehnen), in London gründet Erin Pizzey das erste offizielle Frauenhaus Europas; der Zeichentrickfilm Asterix der Gallier wird zum Kassenschlager des Jahres und überholt sogar das Hollywooddrama Love Story; im peruanischen Amazonas überlebt die 17-jährige Juliane Koepcke das Auseinanderbersten eines vom Blitz getroffenen Passagierflugzeugs sowie den Sturz aus 3000 Metern Höhe in den Regenwald fast unverletzt, nach tagelangem Marsch durch den Dschungel trifft die junge Deutsche auf Holzfäller, sie ist gerettet.
Für Esther Vilar ist es ein Jahr der Ungewissheit. Ihre Stelle als Ärztebesucherin eines Pharma-Unternehmens hat sie verloren. Mit dem Job hatte sie ihre ganze Familie während sieben Jahren über Wasser gehalten. Die Kündigung war ihr »nahegelegt« worden, wie man so schön sagt. Vilar konnte es ihrem Arbeitgeber nicht verübeln. Ihre Aufgabe – Ärzte besuchen eben, um diese über Neuheiten auf dem Markt zu informieren, wobei sie ihre Agenda frei bestimmen durfte und sich weder um den Verkauf noch um Provisionen zu kümmern brauchte – war weder besonders anspruchsvoll noch anstrengend gewesen. Im Grunde war sie als Ärztin überqualifiziert für diese Aufgabe. Doch in den letzten Monaten hatte Vilar nicht einmal mehr das minimale Plansoll erfüllt. Seit sie mit der Niederschrift des dressierten Manns angefangen hatte, konzentrierte sie all ihre Energie auf die Schriftstellerei. Etwas anderes konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen.
Bertelsmann, ein namhafter Verlag, und Stern waren schon mal ein guter Anfang. Doch das große Echo lässt auf sich warten. Im März bringt die Frankfurter Rundschau eine zweispaltige Rezension, einen Totalverriss. Titel: »Party-Geblödel einer Weitgereisten«. Diagnose: »Mit Sorgfalt wird Realität als zu ernst gemieden. ›Der Dressierte Mann‹, den Esther Vilar uns vorführt, ist kaum noch Karikatur.« Fazit: »Sollte ihr Buch den tieferen Sinn haben, aggressiv-parodistisch aufzuklären, hat es das Klassenziel nicht erreicht.« Nichts, aber auch gar nichts lässt die Rezensentin am Buch gelten. Immerhin, Vilar wird wahrgenommen.
Die Stuttgarter Zeitung urteilt eine Woche später etwas gnädiger: »Es war längst fällig, den Emanzipationsspieß einmal umzudrehen und statt der ständigen Beschimpfung des Mannes endlich eine Beschimpfung der Frau zu veranstalten.« Wer sich gegen die Ausbeutung und Beherrschung der Frau durch den Mann auflehne, müsse sich fairerweise auch gegen die Ausbeutung und Beherrschung durch die Frau stellen. »Vieles stimmt sogar, manches ist längst bekannt und das meiste bekommt in dieser Sicht einen amüsanten Touch. Mehr nicht. (…) Das Ärgerliche an dem Buch, das auch Wahrheiten für Einsichtige enthält, ist lediglich, dass die Autorin sich hemmungslos auf Allgemeinplätzen tummelt. Sie sagt ›die Frau‹ und meint eine bestimme Sorte von Frauen.« Aber diese Frauen seien nur eine Minderheit. Fazit: »Trotz allen Einwendungen jedoch bleibt das Buch eine brauchbare Diskussionsgrundlage zum Thema der weiblichen Emanzipation.«
Im Mai folgt eine wohlwollend-spöttische Besprechung im Spiegel (»Das hatte Mann schon lange mal hören wollen«). Im Juni die nächste scharfe Klatsche in der Welt: »Emanzipierte aller Länder – zerstreut Euch! Leise, bitte, und ganz unauffällig. Streicht die Vokabel Gleichberechtigung aus Eurem Wortschatz.« Amüsant sei das Büchlein wohl, aber nicht ernst zu nehmen. Als Antidot empfiehlt die Autorin »Sexus und Herrschaft – Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft« von Kate Millett. Schließlich gehe es bei der Geschlechterfrage nicht um individuelle Befindlichkeiten, sondern um »gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse«.
Diesen Vorwurf wird sich Esther Vilar noch häufig anhören müssen: Ihre Thesen seien zu einseitig, zu polemisch formuliert, sie blende das soziale Gefälle aus, es fehle die politische Vision. Damit kann sie gut leben. Wer eine Streitschrift verfasst, erwartet kein Lob, er fordert den Widerspruch vielmehr heraus. Vilar vertritt ihre Thesen zwar kompromisslos. Doch zugleich hat sie in Interviews immer wieder klargestellt, dass sie nie die alleinseligmachende Wahrheit für sich in Anspruch genommen hat. Sie will aufrütteln, zum Denken anregen, und das funktioniert nun mal nicht mit ausgewogenen Betrachtungen, die alle möglichen Eventualitäten berücksichtigen und damit jede Widerrede im Keim ersticken.
Für Vilar ist es wohlgemerkt kein Spiel, sie meint es ernst, sie glaubt an ihre Thesen. Doch sie sucht keine Anhänger. Ihr schwebt eine Kontroverse vor, in der sich jeder seine eigene Meinung bilden soll, um ein Thema, bei dem viel nachgeplappert und wenig nachgedacht wird. Und das ist ihr bis dahin höchstens im Ansatz gelungen. Allein die Tatsache, dass man sich mit ihrer These auseinandersetzte, wenn auch widerwillig, abwehrend und abschätzig, war schon alles andere als ein selbstverständlicher Erfolg. Doch das launige Geplänkel war weit entfernt von der ernsthaften Debatte, die sie sich erhofft hatte. 30 000 Mal ging ihr Büchlein in den ersten zehn Monaten über den Ladentisch. Das war zwar ansehnlich für einen Erstling, aber nicht mehr. Leben konnte sie davon definitiv nicht. Alles deutete auf ein Strohfeuerchen hin, das bald erlöschen würde.
Umso überraschender kam der Durchbruch.