»Mein Kind, mag ich auch deine Älteste sein, so bin ich doch noch immer deine Großmutter gewesen«, artikulierte die Frau zwischen den vergnügten Glucksern. »Dieser Ort kennt nur uns beide. Dich kennt er vermutlich besser als mich. Lass uns die Göttersalbung für ein paar Minuten vergessen.«
Ihr Faltengesicht veränderte den Ausdruck mit dem Gesagten und verwandelte sich in einen Blick voller Liebe.
»Du bist noch immer mein Kind. Du bist meine Tochter im Blut, Nakhara. Seit uns die Stämme des Westens deine Mutter genommen haben, bist du alles, was mir geblieben ist.«
Sie blinzelte.
»Ja, wir sind ein Stamm, aber wir sind auch Familie.«
Mein gepeinigter Herzschlag beruhigte sich unter den Worten, die der Stammesältesten äußerst selten über die Lippen kamen und zumeist im Geheimen geflüstert wurden. Obwohl diese Frau mich seit frühester Kindheit großgezogen hatte, ja, einer Mutter noch am nächsten gekommen war und mich durch die schwere Zeit ohne Eltern getragen hatte, sollte uns eine Nähe dieser Art seit ihrer Machtübernahme schlichtweg nicht mehr möglich sein. Mit ihrem Titel war sie auch für mich zur Ältesten des Stammes geworden.
Zur Führerin des Geistes. Zu einem Teil der Göttlichen.
Unantastbar und unnahbar sollte sie sein – und der Moment, da sie verdrängte Erinnerungen in mir erweckte, blieb umso kostbarer und reiner für mich. So verschwand letztlich auch die Röte aus meinen Zügen und nahm die Schamgefühle gleich mit sich fort, als ich mir gewahr wurde, dass meine Großmutter als Blutsfamilie – nicht als gottgleiche Gestalt – zu mir treten wollte.
Ich überbrückte die merkwürdige Distanz und fiel der buckligen Gewandungsgestalt um den Hals, presste den dürren Körper immer enger an mich und atmete ihren vertrauten Duft, als könnte ich den Moment auf diese Weise ewig bei mir behalten. Die Stammesälteste umschlang ihrerseits meinen Bauch, drückte ihr Gesicht an meinen Brustkorb und schloss die Umarmung mit dem Wanderstab hinter meinem Rücken.
Durch die nicht unerheblichen Größenunterschiede würde es stets bei einer skurrilen Form des Zuneigungsaustauschs bleiben. Dennoch schätzte ich die Sekunden der Nähe, die man für gewöhnlich an einer Hand abzuzählen vermochte.
»Ich bin stolz auf dich, Nakhara«, flüsterte die Frau. »Ich wollte es dir bereits bei deiner Ankunft im Lager sagen, dir erzählen, wie stolz ich auf deinen ersten Wasserdiebstahl bin, wie glücklich ich mich mit dir als mein eigen Fleisch doch schätzen darf. Du bist heute tapfer deinen Ängsten entgegengetreten und hast deine Dämonen in Gwerdhyll besiegt, indem du den Männern keinerlei Mühen mehr gelassen hast. Du hast deinen ersten Diebstahl erfolgreich gemeistert – und meine Brust wollte bersten vor Glück … Aber du bist so schnell zwischen den Zelten davongestürzt, dass mir gar keine Gelegenheit zu einem Gespräch mehr gegeben war.«
Wir lösten uns.
Ihre stahlblauen Augen bohrten sich in die meinen und schienen förmlich vor Sorge durchtränkt, als könnte sie jegliches Geschehen in meinen Gesichtszügen lesen, als könnte sie jeden meiner Gedanken erahnen und auch den jungen Soldaten aus meiner Erinnerung sehen. Ihre Hand reckte sich weit in die Höhe und schmiegte sich an meine Wange, als ich mich zu meiner Großmutter herunterbeugte und ihr mit gerunzelter Stirn entgegenblickte. So manches Mal zweifelte ich an ihren Worten, in denen sie versicherte, die Götter schenkten ihr keinerlei Fähigkeiten zur Gedankenübertragung.
Ich blieb ein offenes Buch für die Frau.
»Ich war unruhig. Der Angriff verfolgt mich noch immer«, wagte ich mich mit vorsichtigen Floskeln an eine Lüge. »Ich kann diesen Tag vor Gwerdhylls Toren nicht aus meinen Gedanken tilgen, als wäre er niemals wahrlich geschehen oder hätte keine Leben von uns genommen. Mögen die düsteren Dämonen, wie du sie bezeichnest, auch auf ewig aus meinem Geist geflohen sein … Ein Splitter der Gedanken wird mir immer bleiben.«
Wahrlich … Ich hatte gelogen!
Es handelte sich um einen gänzlich anderen Splitter, der mir aus Gwerdhyll geblieben war.
Aber …
Wie sonst sollte man auch von einer Begegnung mit einem Städter berichten, der einen nicht bloß mit dem Leben hatte davonkommen lassen, sondern bis in die tiefsten Winkel der Wüste verfolgte, dessen Antlitz vor blauem Himmel erschien und dessen Blick sich in die eigene Seele bohrte? Wie sonst erzählte man der Anführerin eines Stammes, dass man sich auf skurrile Weise mit dem Menschen verbunden fühlte, dass man eine gewisse Vertrautheit in seinen Zügen erkannte und ahnte, dass ein Geheimnis hinter den Dingen lag … all dies, obwohl man ihn aus blankem Herzen hasste?
Die Augen der Ältesten wanderten über meine Züge, lasen darin scheinbar eine verborgene Wahrheit und senkten sich dann zu unser beider Fußspitzen.
»Nun gut, ich wollte dir nicht zu nahe treten«, murmelte sie. »Manches Wissen steht mir nicht zu … und dennoch: Wir müssen uns unterhalten, Nakhara.«
Ich trat einen Schritt zur Seite, vollführte beinahe einen panischen Sprung – fühlte mich wie vom Blitz der Götter getroffen, hatte mich doch soeben die Erinnerung an das Gespräch mit Jharrn wieder in ihre Fänge geschlagen.
Über die Grübeleien war die unheimliche Begegnung im Zelt beinahe in Vergessenheit geraten, doch nun, da die Älteste offensichtliche Anspielungen einwarf …
Grundgütige Epona! Wie konnte ich nur vergessen, was Jharrn gesagt hat?
Nach dem Wasserdiebstahl. Ich soll es schon bald erfahren. Es wird definitiv geschehen. Ich soll es nicht unnötig schwer machen.
All diese Dinge hat der Wassermeister in seine Worte gebunden … und nun?
Als ich erneut die Züge der Stammesältesten las und ein gewisses Unbehagen darin erkannte, da war mir, als müsste mir das Herz hinauf in die Kehle steigen oder gänzlich seine Tätigkeit an den Schockzustand verlieren. Selten hatte ich solch eine Emotion in ihrer Miene gesehen … und noch seltener war mir ein solcher Blick zuteilgeworden, sodass ich umgehend nach Atemluft schnappte.
»Du wirst dir sicher denken, dass ich nicht nur aufgrund meines Stolzes den weiten Weg gekommen bin«, konstatierte die Stammesälteste, während sie unruhig mit den Füßen wippte.
Die Gewandungsgestalt schwankte in einem unregelmäßigen Takt.
Nach links. Nach rechts. Nach vorn. Nach hinten.
»Ich hoffe, du weißt, ich würde niemals eine Entscheidung deinerseits erzwingen und dich um nichts bitten, sollte es nicht absolut der Notwendigkeit des Stammes unterliegen …«
Ohne weitere Gedanken auf Respekt und Anstand zu verschwenden, war ich nun diejenige, die ihre Hände in einem Schraubstockgriff um die Arme ihres Gegenübers schlang und die Person somit in der Bewegung fixierte. Ich umklammerte die Arme der Stammesältesten und verankerte sie in der Position, als könnte ich mich selbst auf diese Weise vor den erschütternden Wehen der Auflösung verankern.
So lange verdrängt … und nun halte ich es gar nicht mehr aus.
»Älteste, bitte. Sprich nicht in Rätseln zu mir!«, flehte ich der erschrockenen Frau entgegen.
Sie schluckte ihrerseits sichtlich gegen einen Kloß in der Kehle und hielt den Blickkontakt nur unter Mühen.
»Du weißt, dass die Rituale lange nicht mehr genügend Regen bringen und wir den Göttern mehr opfern müssen als das Wasser der Städter. Wir müssen ihnen bereitwillig unser gesamtes Leben widmen, so steht es in den westländischen Nachrichten geschrieben. Die Jäger haben einen Boten abgefangen. Es heißt, man habe Erfolg mit einem viel älteren Ritual verzeichnet, welches das Leben zweier Menschen auf ewig mit den Göttern verbindet. Während des morgigen Wasserrituals in den ersten Strahlen der Sonne wollen wir ebendieses Ritual nachvollziehen und auf diese Weise für eine längere Regenzeit sorgen. Es ist ein Fruchtbarkeitszauber. Im Zuge dessen müssen sich das Urmännliche und das Urweibliche miteinander vereinen, sodass …«
»JHARRN?!«
Mein Verstand