wir«, sagte einer der Männer. »Das ist unser Leben, solange uns Kraft bleibt. Es ist das Letzte, das uns geblieben ist, und von dir lassen wir uns das nicht nehmen.«
Giunas Unterlippe zitterte. In dieser Aussage lag etwas so Trauriges, dass sie keine Worte fand. »Ich werde euch helfen.« Sie wusste, dass sie damit ein allzu optimistisches Versprechen gab. Weder hatte sie die Mittel dazu, noch war es das Ziel ihres Einsatzes. »Aber zunächst brauche ich eure Unterstützung. Ich suche ...«
»... einen Fluchtweg?« Die Frau lachte. Ein wenig Blut rann ihr aus dem Mundwinkel.
»Jemanden«, stellte Giuna klar. »Habt ihr von Lanko Wor gehört?«
Sie verneinten. Es wäre ein allzu großer Zufall. Aber immerhin redeten sie mit ihr.
»Was kann ich tun, um ihn zu finden?«, fragte Giuna.
»In der Ausweglosen Straße?« Das war das Fremdwesen, das zuerst mit ihr gesprochen hatte. »Unmöglich. Wenn du nicht weißt, wo er ist, gibt es ...«
»Er ist seit drei Wochen hier.«
»Dann könnte er überall sein.«
Der Boden bebte. Steine verrutschten und führten einen Tanz aus. Etliche spritzten einen halben Meter hoch. Einer schlug an Giunas Knie.
»Nein«, sagte die Fremde. »Ich kann nicht mehr.«
Einer der Männer packte ihren Arm. »Du musst.«
Sie schüttelte ihn ab, wankte einige Schritte zur Seite und brach zusammen. »Lasst mich!«
»Der Suppressor ...«
Ein Grollen riss ihm die Worte von den Lippen. Steine flogen meterhoch und krachten wie ein tödlicher Regen zurück.
Die Fremdwesen rannten, einer der Humanoiden ebenso. Der zweite Mann beugte sich zu der hilflos daliegenden Frau.
Der Boden brach auf, und ein gezackter Riss jagte hindurch, verbreiterte sich zu einer Spalte, die Giuna von den beiden trennte.
Der Mann rutschte über die Kante, klammerte sich im letzten Moment fest. Seine linke Hand löste sich ab. Steine fielen, einer schlug ihm auf den Kopf. Er verlor endgültig den Halt und stürzte ab.
Giuna aktivierte die Flugfunktion, sprang in den Spalt und schwebte hinab. Er lag auf einem kleinen Plateau. Direkt neben ihm ging es in unbestimmte Tiefe.
Sie packte ihn und zog ihn mit sich an die Oberfläche. Gemeinsam landeten sie bei der Frau. »Ich nehme sie«, schrie Giuna gegen das ständige Grollen des Erdbebens an. »Kannst du allein ...?« Sie stockte.
Die Fremde war tot. Ihre Augen standen offen, aber es war, als läge ein Schleier über ihnen. Die Hände hingen verkrampft auf der Brust.
»Ihr Herz«, sagte der Mann. »Ich habe das schon oft gesehen.«
An einer weiteren Stelle platzte der Boden auf.
Giuna packte den Überlebenden, umklammerte ihn und schaltete den Anzug auf volle Flugleistung. Sie hoben ab und rasten über die Ebene, hinaus aus dem Gebiet des Erdbebens.
Erdbeben.
Ein falsches Wort. In dieser künstlich erschaffenen Raumstation, in diesem gewaltigen Ring, gab es keine Naturkräfte, die die Erde zum Erbeben bringen könnten. Dies war ein bewusst ausgelöstes, genau kalkuliertes Ereignis – das, was die Fremde kurz vor ihrem Tod eine neue Teufelei der Cairaner genannt hatte.
Als Giuna landete, hatte sie Tränen in den Augen.
*
»Du hast doch eine Chance«, sagte der Mann.
Sie blinzelte die Tränen weg. »Was meinst du?«
»Diesen Lanko zu finden. Wer ist er? Dein Bruder? Dein Vater?«
»Mein Mann. Wieso glaubst du, dass ich ihn finden kann?«
»Dein Anzug. Dir bieten sich andere Möglichkeiten als uns. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, sei vorsichtig.«
»Ich kenne die Gefahren, die euch ständig zur Flucht zwingen.«
»Das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Die Gefangenen. Du wirst dich mitten unter sie mischen müssen, und dein Anzug ist hier mehr wert, als du dir vorstellen kannst.«
Giuna lächelte matt. »Also warnst du mich auch vor dir selbst?«
»Du hast mir das Leben gerettet. Ich werde dich nicht angreifen. Sonst hätte ich es längst versucht.«
Sie überlegte, ihm zu sagen, dass sie gut bewacht wurde, doch sie wollte nicht ohne Not auf Kondayk-A1 und Cyprian Okri hinweisen, die sich während des Bebens mit keinem Wort gemeldet hatten. Waren sie überhaupt noch da? Der Gedanke kam wie ein Blitzstrahl. Sie schob ihn beiseite, aber es blieb ein böse nagender Zweifel.
»Wie soll ich Lanko suchen?«, fragte sie stattdessen.
»Die Fläche der Ausweglosen Straße umfasst etliche Quadratkilometer. In einer Stadt dieser Größe hättest du keine Chance, ihn zu entdecken. Aber hier ist es ...« Er lachte trocken. »... dünn besiedelt. Flieg. Frag. In ein paar Wochen solltest du ihn finden. Wenn du so lange durchhältst. Oder schützt dich dein Anzug auch vor dem Suppressor?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir.«
»Es gibt keinen Schutz vor diesem Gerät.«
»Frag ihn nach dem Suppressor«, hörte sie Cyprians Stimme im Ohr. Also war er noch da. Selbstverständlich.
»Wie heißt du?«, fragte sie stattdessen.
»Agalor.«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Zwei Monate.«
»Du kennst dich hier aus?«
Er nickte. »Was willst du wissen?«
»Wo steht der Vital-Suppressor?«
»Du kommst nicht an ihn ran.«
»Lass das meine Sorge sein.«
Mit einem Brüllen raste ein Raubtier auf sie zu – die mächtigen Tatzen schienen die Steine kaum zu berühren. Kein Okrill, erkannte Giuna. Wenigstens das. Sie riss ihre Waffe hervor und feuerte.
Sie verfehlte das heranjagende Ziel. Ihr Schutzschirm aktivierte sich automatisch. Sie war in Sicherheit – Agalor jedoch nicht.
Sie schoss erneut.
Ein Heulen, und die Bestie wurde im Sprung zur Seite gerissen. Sie brach zusammen, ein blutiges Loch im Brustkorb.
»Mit den richtigen Mitteln ist nichts so gefährlich, wie es scheint«, kommentierte Giuna, als hätte sie derlei schon hundertmal getan. »Also, wo finde ich den Suppressor?«
»Manche sagen, am Ende der Ausweglosen Straße.«
»Es gibt kein Ende.«
»Eben. Niemand hat ihn je gesehen.«
»Ist er in die Hülle des Rings eingearbeitet?«
»Vielleicht. Ich kann dir nicht helfen.«
»Zurück zu Lanko. Ich darf ihn nicht nur ziellos suchen. Du hast von ein paar Wochen gesprochen, bis ich auf ihn stoße. So viel Zeit bleibt mir nicht. Nicht einmal ansatzweise. Die Cairaner wissen wahrscheinlich bereits von mir. Sie werden ein Team schicken, das mich sucht, und das wird nicht lange brauchen, obwohl ich mich gut verbergen kann. Ich bin auf einen schnellen Erfolg angewiesen. Meine Chancen sinken von Tag zu Tag.« Sie hatte von Stunde zu Stunde sagen wollen, aber das klang zu frustrierend.
»Geh ins Dorf. Früher oder später tauchen alle dort auf, um sich Nahrungsmittel zu besorgen. Außerdem, wenn dein Mann erst seit drei Wochen hier ist, könnte er zu den Narren gehören, die sich darin verschanzen. Neulinge halten oft an falschen Hoffnungen fest.«