Christian Montillon

Jupiter 4: Syndikat der Kristallfischer


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      »Oder umkehren«, ergänzte Diamond.

      Rhodan schwieg. Dazu war er nicht bereit. Konnte man wissen, ob es überhaupt gelingen würde? Sie waren bereits tief in die Atmosphäre eingedrungen, und was immer um sie herum vorging, sie mussten so schnell wie nur irgend möglich den sprichwörtlichen sicheren Hafen ansteuern, den MERLIN ihnen bieten konnte ...

      »Die Faktorei sollte in weniger als zweihundert Kilometern Entfernung stehen«, teilte Mondra mit. »Sofern die Peilimpulse korrekt eingehen, mit denen ich unsere Position bestimme.«

      »Aber?«, rief Matthau aus dem Schacht.

      »Aber sie bleibt nach wie vor verschwunden«, sagte Rhodan, ohne dass er die Daten, die Mondra vorlagen, selbst sah.

      »Abgetrieben durch diesen ... Sturm?«, fragte der Agent.

      Rhodan wusste, dass es sich nicht nur um einen Sturm handelte. Er sah jedoch keine Veranlassung, dies extra zu betonen. Matthaus Zögern zeigte, dass dieser es ebenso wusste.

      »Ich habe sie!«, rief Mondra.

      Rhodan atmete erleichtert aus.

      »Zwanzigtausend Kilometer Distanz!«

      Zwanzigtausend Kilometer. Unter normalen Umständen wäre das an Bord der Micro-Jet ein Katzensprung gewesen – so jedoch konnte niemand sagen, ob sie ihr Ziel jemals erreichen würden.

      Um einen Manövrierfehler oder etwas Ähnliches konnte es sich kaum handeln; MERLINS Position war bewusst geändert worden.

      *

      Sie rasten weiter durch die Hölle aus blitzenden Lichtern und irritierenden Farbkaskaden. Plötzlich flackerte der Schutzschirm um die Jet in einer Unzahl kleiner Explosionen. Es war, als würden kleine Materiebrocken verdampfen. Doch wo sollten sie herkommen? Rotes Glühen sirrte tausendfach über den gesamten Horizont. Die Irrlichter leuchteten noch vor Rhodans Augen nach, als sie längst vergangen waren.

      Dann verstand er: Die Atmosphäre des Jupiters brannte.

      Wie weit das Phänomen reichte, vermochte er nicht zu sagen – er wusste nur eins: Die Katastrophe war weitaus umfassender, als er bis zu diesem Moment hatte vermuten können.

      Flammen loderten rund um den Schutzschirm.

      »Die Gasmassen verpuffen.« Mondra Diamonds Stimme zitterte vor Entsetzen. Wahrscheinlich dachte sie das Gleiche wie er. Wenn dies eine Kaskadenreaktion war und die gesamte Atmosphäre erfasste ...

      Rhodan, der gezwungen war, auf Sicht zu fliegen, steckte unvermittelt mitten in einem gewaltigen Feuerfeld. Ihn schwindelte. Die Jet geriet erneut ins Trudeln. Oben und Unten verloren ihre Bedeutung, es war unmöglich, sich zu orientieren. Sie rasten in der winzigen Schutzkuppel ihres Schirms weiter, ins Blinde hinein.

      Zwanzigtausend Kilometer, dachte Rhodan. Und ich weiß nicht einmal mehr, ob ich die Richtung halten kann.

      In einem außer Kontrolle geratenen Stück Technologie flog die kleine Gruppe von Menschen ihrem Tod entgegen. Mehr denn je kam sich Rhodan wie in einem Sarg vor. Lebendig begraben, dem Krematorium übergeben ...

      Das Universum brannte. Feuerzungen verschlangen alles.

      »Jupiter geht unter«, sagte eine von Grauen erfüllte Stimme aus dem Schacht. Rhodan konnte sie nicht mal mehr zuordnen. »Der Planet stirbt!«

      Wieder überschlug sich der Kosmos ihres Fluggeräts. Tränen schossen Rhodan ins Gesicht.

      Etwas trudelte an seinem Sichtfenster vorüber – er traute seinen Augen kaum. Ein zerfetztes Stück Metall – ein scharfkantiges Fragment, ein Teil ihrer Jet, ein gerade mal eine Handspanne umfassender Aufbau, in dem eine Kamera zur Außenbeobachtung untergebracht war. Es schrammte über die Scheibe, schoss dann weiter, getrieben von außer Rand und Band geratenen Kräften, erreichte die Innenseite des Schutzschirms und verglühte.

      Funken prasselten auf die Scheibe. Schwarze Rußflecken entstanden und vergingen sofort wieder.

      »Außentemperatur steigt«, meldete Diamond. »Die Instrumente arbeiten teilweise wieder korrekt. Die Werte sind irrsinnig hoch. Schutzschirmbelastung extrem. Hundertsechzig Prozent über Maximalbelastung. Bruch steht bevor!«

      Die Welt glühte. Rhodans SERUN hatte die Sichtscheibe des Helms längst abgedunkelt, um einen Augenschaden zu verhindern. Wahrscheinlich wäre er sonst bereits erblindet.

      Dunkelheit waberte unvermittelt in den weiß lodernden Flammen, ein willkommener Fleck Düsternis. Wie ein Schwarzes Loch inmitten der Korona einer Sonne.

      Rhodan riss die Jet herum, jagte dem einzigen Ort entgegen, der Linderung verhieß. Sie stießen in die Schwärze, die sich bald als die üblichen grauen und bläulichen Schwaden entpuppte, aus denen die Jupiteratmosphäre bestand.

      »Hinter uns!«, ächzte Matthau. Er konnte durch die transparente Kuppel über dem Schacht ins Freie sehen.

      Erneut zwang Rhodan die Maschine in eine scharfe Kurve, in einem Neunzig-Grad-Winkel. Er fühlte mehr als er wusste, dass dies die richtige Richtung sein musste, in der MERLIN in einiger Entfernung stand.

      Durch diese Aktion entdeckte er, worauf die Worte des TLD-Agenten abzielten.

      Eine riesige, glühende Feuersbrunst loderte scheinbar bis in die Unendlichkeit. Glühende Gase verpufften in einer gewaltigen Kettenreaktion. Rotes und blaues Feuer überlappte und fraß sich gegenseitig.

      »Mehr als tausend Kilometer Durchmesser«, staunte Diamond.

      Noch während Rhodan hinsah, erstickte der Flammenball plötzlich, sackte in sich zusammen, schrumpfte und hinterließ umfassende Schwärze, dunkler, als wenn nie ein Feuer geleuchtet hätte. Einen bizarren Augenblick lang trieben riesige Asche- und Schlackewolken umher, ehe alles im tobenden Chaos eines Wirbelsturms verschwand. Gase aus der Umgebung schossen in das Vakuum.

      Ihm blieb keine Zeit, nachzudenken. Was immer hier geschah, die Atmosphäre des Gasriesen war in Unruhe geraten – womöglich war längst jegliche natürliche Regelung zusammengebrochen. Rhodan erschauerte, als er daran dachte, was eine solche Katastrophe mitten im Solsystem bedeutete. Wenn Jupiter verging, würde das unvorhersehbare Auswirkungen auf die Stabilität des gesamten Systems nach sich ziehen.

      Dann traf die Gewalt des Sturms die Jet.

      Alles überschlug sich erneut, weitaus schlimmer als zuvor. Nur Dank der SERUNS und ihrer Schutzfunktion blieb ein Rest von Normalität.

      Rund um ihn knirschte es bedenklich. Ein statisches Sirren quälte seine Ohren, dann tobte der Lärm einer Explosion.

      »Feuer!«, hörte Rhodan, während er mit aller Gewalt versuchte, die Kontrolle über die Jet zurückzugewinnen. »Ich kümmere mich darum!«

      Hinter ihm herrschte hektische Aktivität. Er überließ alles den TLD-Agenten. Manuell ausgebrachter Löschschaum zischte. Die Luft verdunkelte sich mit Asche und Ruß.

      »Hast du MERLIN?«, rief er ins Chaos.

      Womit er nicht gerechnet hatte, geschah. Mondra gab ihm eine Kursanweisung. »Nur noch knapp zweitausend Kilometer.«

      Sie rasten weiter.

      »Feuer erstickt!«, meldete Matthau.

      Die Atmosphäre vor ihnen schien wesentlich ruhiger als die hinter ihnen. MERLIN stand offenbar an einem weitaus weniger gebeutelten Platz. Hatte sich die Faktorei rechtzeitig in Sicherheit bringen können, weil die Besatzung gewusst hatte, was geschehen würde?

      Der Gedanke war unsinnig. Die Besatzung hätte eine Warnung ausgeben müssen. Doch was auch immer dahintersteckte, Rhodan würde sich später darum kümmern müssen. Wenn es ein solches Später überhaupt gab. Denn sie mochten MERLIN zwar gefunden haben, und die Faktorei mochte als zumindest etwas sicherer Hort durchgehen ... Aber noch waren sie lange nicht drinnen.

      Ein Schutzschirm stand – selbstverständlich – um das riesige Gebilde, das auf den ersten Blick an eine terranische Schildkröte erinnerte.