Jetzt nicht.
»Wirklich ein gran-di-o-ser Start ins Wochenende«, sagte Dion Matthau.
Sie wurden zu fünft abgeführt.
Ein letzter rötlicher Schwaden verpuffte auf der Micro-Jet.
Splitter
Es hat Tage gegeben, in denen sich Deshum Hiacu den Kopf darüber zerbrochen hat, wie der Schlafmann so viele unterschiedliche Träume erfinden und sie in die Köpfe aller intelligenten Lebewesen einschmuggeln kann. Denn jeder, der ein Bewusstsein besitzt, träumt auch, davon ist Deshum überzeugt. Darin besteht die vielleicht einzige völkerübergreifende Gemeinsamkeit zwischen Terranern, Blues, Arkoniden, Halutern und wie sie alle heißen.
Diese Tage sind schon lange vorüber.
Heute fragt sich Deshum Hiacu, was geschehen wird, wenn er beim nächsten Mal immer weiter stürzt. Wenn er es eines Tages überhaupt nicht mehr kontrollieren kann.
Er liegt in seinem Bett und zittert. Angst greift nach seiner Seele. Angst vor dem, was kommen wird. Angst davor, dass der Kollaps der Jupiteratmosphäre nur der Beginn ist. Angst wegen all der Menschen an Bord der Faktorei MERLIN, die noch nicht wissen, dass sie in ihr Verderben rennen. Denen noch nicht die Augen geöffnet worden sind, so wie ihm.
Alles ist außer Kontrolle geraten. Eine kritische Grenze ist überschritten.
Es gelingt ihm kaum, die Bettdecke zu fassen und sie über seinen Körper zu ziehen. Die Wärme, die davon ausgeht, erreicht ihn ohnehin nicht. Denn Deshum friert innerlich.
Ein Gedanke frisst sich in seinem Gehirn fest und lässt ihn nicht mehr los: Tau-acht.
Schon daran zu denken, beruhigt ihn.
Eine Sekunde lang.
Danach zittert er wieder, stärker als zuvor. Errinna Darevin, seine tote Geliebte, vergisst er. Sie ist nur noch ein Schemen, irgendwo am Rand seines Bewusstseins. Der Blick ihrer glasklaren Augen verschwimmt wie ein Nebelschwaden. Er denkt nicht mehr daran, dass ihn mörderischer Hunger quält, weil er seit Errinnas Tod nichts mehr zu sich nehmen kann, ohne sich sofort zu übergeben. Seinem Mediker hat er dies verschwiegen.
Die Kosmopsychologin, in ganz MERLIN unter dem Spitznamen Bré junior bekannt, hat erst recht nichts davon erfahren. Sie hätte ihm nur einen endlosen Vortrag gehalten.
Für ihn zählt nur noch eins: jene kleine Lade in seinem Hygieneraum, halb verborgen hinter dem Vibrorasierer.
Jene kleine Lade, in der sein wertvollster Besitz lagert und die er nach seinem letzten Sturz hatte leeren wollen. Zum Glück hat er sich nicht dazu durchgerungen, denn welche Rolle spielt es mittlerweile, ob Tau-acht Nebenwirkungen hat? Was kann schon geschehen? Wie soll es noch schlimmer werden?
Deshum Hiacu steht abrupt auf. Die Welt kippt vor ihm. Sein Herz schmerzt, es dreht sich leicht um seine Achse, eine alte, angeborene Schwäche in Situationen der besonderen Belastung, wenn der Kreislauf revoltiert. Durch den Tau-acht-Konsum ist es nicht besser geworden.
Ihm wird übel. Er lehnt sich gegen die Wand. Mit tiefem Durchatmen ist es dieses Mal nicht getan. Vorsichtig setzt er sich hin, legt den Kopf in den Nacken. Auch das genügt nicht. Deshum streckt sich auf dem Rücken aus, die Beine auf dem Bett abgelegt. Schweiß perlt auf seiner Stirn.
Langsam, sehr langsam, wird es besser. Das Gefühl, ins Nichts abzudriften, verschwindet. Aber er gibt sich keinen Illusionen hin – was ihn eigentlich antreibt, ist das Wissen, was in der Hygienezelle auf ihn wartet.
Eine Minute später wankt er los. Im Spiegel sieht er ein totenbleiches Gesicht. Die Augen sind rot unterlaufen. Die Haare seltsam strohig.
»Machen wir uns nichts vor«, flüstert er. »Wir sind auf Entzug, alter Knabe!«
Er öffnet die Lade. Wie verführerisch der kleine Glasbehälter aussieht.
Um den Tau in Flüssigkeit aufzulösen, nimmt er sich nicht die Zeit, obwohl er es eigentlich lieber mag. Der Glaskolben zittert zwischen Daumen und Zeigefinger. Vorsichtig löst Deshum den Verschluss. Er legt den Kopf erneut in den Nacken, diesmal jedoch aus ganz anderen Gründen. Er öffnet die Augen weit, so weit es nur geht. Die Phiole tanzt wenige Zentimeter darüber.
Dann ein leichter Druck, und eine Dosis Tau-acht-Staub dringt aus der Düse.
Der Staub fällt in sein Auge.
Eine Träne bildet sich.
Eine kostbare Träne. Als sie über das Gesicht rinnt, vorbei an der Nase, streckt Deshum rasch die Zunge heraus und fängt den Tropfen auf.
Das Auge selbst resorbiert längst den Tau, und er beginnt zu wirken. Das Zittern seiner Muskeln verschwindet. Die Gedanken klären sich. Der Geschmackssinn intensiviert sich. Die Träne schmeckt herb und bitter, doch als er sie schluckt, ist sie unendlich süß in seinem Magen.
Wärme breitet sich aus.
Er vermag klarer zu denken. Er hört das Verrinnen der Zeit. Sein Atem trägt Leben und verbreitet ihn.
Dass er nun allein ist, verleiht allem einen schalen Beigeschmack. Wenn Errinna nur wieder da wäre. Vielleicht, nur vielleicht, kann er ja eine andere Paragabe in sich wecken als das vermaledeite Gehen durch die Wände. Wie nutzlos diese Gabe ist. Ärgerlich und nutzlos.
Die Gabe.
Der Fluch.
Deshum lacht. Fluch? So beurteilt er es vielleicht, wenn er schwach ist, doch nun ist er stark. Er hat den Fehler begangen, die Droge wieder viel zu spät ...
Seine Gedanken erstarren, als er zu schweben beginnt.
Nein, zu stürzen. Erst als er einen Schrei hört und eine Gestalt an sich vorüberziehen sieht, begreift er, dass er wieder fällt.
Seinen Fluch hat er nicht unter Kontrolle. Wieder einmal nicht. Feste Materie leistet ihm keinen Widerstand mehr. Er kann durch Wände gehen. Aber ebenso kann er nicht mehr auf dem Boden stehen, denn auch dieser bietet keinen Halt mehr.
Deshum lacht, als er stürzt. Er ist stark. Er kann ganz MERLIN aus den Angeln heben, wenn es sein muss, und mehr noch.
Er ist Honovin!
Er ist Teil der Vision.
Er ist einer der Auserwählten.
Der Sturz wird schneller und schneller. Ein Deck, noch ein Deck, eine riesige Maschine, energetisches Blitzen. Eine Umgebung, die er nie zuvor gesehen hat.
Ein vielstimmiger Aufschrei folgt, als er ausgerechnet durch das Casino stürzt. Welche Ironie. Hände strecken sich ihm entgegen, Augen werden weit und entsetzt aufgerissen.
Doch Deshum Hiacu lacht.
Schließlich passiert er die Außenhülle der Faktorei MERLIN. Im freien Weltraum verstummt sein Lachen.
Es ist kalt. Kälter als je zuvor. Es gibt keinen Sauerstoff mehr. Die Flüssigkeit seiner Augen verdampft in der Kälte sofort, die Hornhaut bricht auf. Die Lippen spannen sich vor dem geöffneten Mund, sie platzen. Blutstropfen quellen hervor und fallen langsamer als er – sie tanzen als gefrorene Kugeln in einer Reihe über ihm. Unter der Hautoberfläche platzen kleine Gefäße wegen des plötzlichen Druckabfalls. Auf seinem Körper bilden sich hässliche blaue und rote Flecken. Ein Knacken, das ihm überlaut erscheint, aber niemand sonst hätte hören können: Seine Trommelfelle reißen.
Nach zehn Sekunden verliert Deshum das Bewusstsein, während er immer weiter stürzt.
Gerade als er erstickt, durchquert er den Schutzschirm um MERLIN. Die höherdimensionale Energie lässt während der Passage sämtliche Flüssigkeit seines Körpers blitzartig verdampfen. Als Mumie treibt er durch die Atmosphäre des Gasplaneten Jupiter, die von Sekunde zu Sekunde in größere Unruhe gerät.
Etwas hat seinen Anfang genommen.
Etwas, das nicht mehr zu stoppen ist.
Irgendwann erreicht Deshum Hiacus toter Leib den Bereich, in