Michael Reist

Fast & Konfuzius


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       TAG 3

       MAUER

      慕田峪,北京

      Mutianyu, Peking

      Der Smog erinnert uns an neblige Novembertage. Die Hitze holt uns zurück in den August. Uber heißt hier Didi – im Chinesischen klingt es nahezu wie »kleiner Bruder«. Wir fahren nach Mutianyu. Die große Mauer zieht sich, überrannt von Büschen und Bäumen, durch die Hügellandschaft. Unsere Schritte hallen im schiefen Gemäuer. Die Treppe fällt stark hinab, und die Stufen verschwinden in der Steile, nur der Handlauf beruhigt. Wir schießen Fotos vom Wachturm hinunter, spähen in die Weite. Auf dem Rückweg mit dem Bus ziehen im Dunst Wohnblocks vorbei. Für die letzte Teilstrecke verhandeln wir mit den Taxifahrern und werden ausgelacht.

       TAG 4

       REQUISITEN

      前门,北京

      Qianmen, Peking

      Eingelassener Stahl deutet in die Ferne, darauf gleitet ein Tram in den Horizont. Der Boden aus glattem Marmor, die Front schillernd: Das Quartier ist ein filmkulissenartiger Nachbau der 20er-Jahre. Große Markennamen prangen auf großen Schildern. Ein Seitenarm führt hinter die Maskerade, zeigt glanzloses Mauerwerk. Holzbalken in mannigfaltigen Farben rahmen Glas, Lampions schweben in der Luft. Einheimische drängen durch die Gassen. Wir lassen uns in immer feinere Verästelungen treiben. Der Duft von Essen begleitet uns unablässig. Die besten Nudeln von China, behauptet jemand. Wir zweifeln. Ein Mann mit Fahrrad und Blechtank zieht von Tür zu Tür. Uns entzieht sich, weshalb.

       TAG 5

       ELEKTRONIK

      中关村,北京

      Zhongguancun, Peking

      Eine Stunde Fahrt, zweimal umsteigen. Abfahrts- und Ankunftsort scheinen identisch. Die Ticketautomaten sind unterbeschäftigt, denn menschlicher Kontakt wird geschätzt. Wir hingegen schätzen das Englisch des Automaten. Angekommen im Distrikt für Elektronik, wählen wir einen Block nach Zufallsprinzip. Möglicherweise auch nach bekannten amerikanischen Logos. Für das neu eingebaute Display bezahlen wir fünfzehn Euro. Wir scherzen und diskutieren mit dem Reparaturteam, wie man die chinesische Internetzensur umgeht. Lösung: VPN. Rolltreppen führen auf Etagen voller Telefone, Computer, Kameras, neu, gebraucht, jeder verkauft auch sein eigenes Smartphone. Auf dem Rückweg überrascht uns warmer, anschmiegsamer Regen, unsere Schritte werden hastig. Die Schirmverkäuferin strahlt und kassiert.

       TAG 6

       MASSEN

      御园,北京

      Yuyuan, Peking

      Keine Eintrittspreise, kein Wasserhahn, keine Türen, keine durchgehenden Trennwände, keine Schamgefühle. Hinter mir, eine Armlänge entfernt, sitzt ein Mann in der Hocke. Das Echo verhallt im getäfelten Raum.

      Später jagen wir einer Legende hinterher: Angeblich gibt es riesige unterirdische Städte unter Peking, gebaut für Zeiten fallender Bomben. Wir suchen, fragen herum, bekommen keinen Hinweis und ändern enttäuscht den Plan. Wir schreiten über eine hohe Schwelle und folgen den Massen in den Park. Auf einer Insel spendet uns ein altes, vollkommen rotes Holzhaus Schatten. Unsere Blicke schweifen über die Seerosen, und wir verstehen, weshalb der Kaiser hier seinen Sommerpalast errichten ließ.

       TAG 7

       VERHANDELN

      中关村,北京

      Zhongguancun, Peking

      Ohne ein aktuelles Smartphone ist man in China verloren. Wir fahren noch mal zum Elektronik-Distrikt. Inmitten von Hüllen, Ladebänken und alten Tastaturen verbergen sich modernste, gebrauchte Telefone. Wir fürchten die Fallgruben von überhöhten Preisen, minderwertigen Ersatzdisplays, versteckten Schäden und Hehlerware. Ich möchte ein unverändertes Gebrauchtgerät. Der junge, computerspielende Händler, der rauchende Herr, alle antworten: »Méi yǒu. Gibt es nicht.« Zwischen den Zeilen lesen wir: »Interessiert mich nicht, verschwinde.« Dann bekomme ich ein vernünftiges Angebot. Es folgen Gegenangebot, Herunterspielen, Verhandeln, Nervenkrieg. Seine Geduld schwindet, sein Feierabend ruft, endlich bröckelt der Preis. Ich schlage zu und kaufe die Katze im Sack.

       TAG 8

       SPONTANITÄT

      西四,北京

      Xisi, Peking

      In einigen Tagen tritt mein Bruder die Heimreise an. Vorher wollen wir einen Vorstoß ins Landesinnere wagen. Die Auswahl einer Destination fällt uns schwer. Sehenswerte Orte sind Tagesreisen entfernt, die Suchmaschinenzensur macht Recherchen zäh. Wir entdecken das gelobte Pingyao und wollen sofort aufbrechen. Es folgt die Ernüchterung: Sitzplätze ausgebucht, Stehplätze ebenfalls. Spontan reisen in China? Schwierig. Wir recherchieren weiter, ergattern Tickets für den Folgetag und übernachten im Stadtteil Xisi. Traditionelle Hutong1 verschmelzen mit modernen Glas- und Stahlbauten. Die Überdachung des Innenhofs fußt auf Holzsäulen, Lampions säumen die Kanten. Holzgitter werfen Schatten auf die Fenstergläser. Drei Goldfische ziehen Bahnen im Messingkessel.

       TAG 9

       HOCHGESCHWINDIGKEITSZÜGE

      从北京到平遙

      Von Peking nach Pingyao

      Der Westbahnhof in Peking ist ein Stiefbruder jedes Flughafens. Tausende Reisende drängen sich in langen Schlangen. Die chinesische Strategie lautet: Keinen Zentimeter zurückweichen!

      Erst Ticketkontrollen und Sicherheitschecks im Eingangsbereich, dann führen Dutzende Rolltreppen in eine obere Etage. Gleise im ersten Stock? Nein. Dort befinden sich kolossale Wartehallen direkt über den Perrons, die wir erst betreten dürfen, nachdem unsere Identität erneut überprüft wurde. Kontrolleure sind in den Hochgeschwindigkeitszügen überflüssig. Bei grünem Licht schießen die Massen wie Wasser durch die Schleusen.

      Dann erleben Menschen mit Flugangst beinahe Traumatisches. Gepäckstücke werden gewissenhaft verstaut, herunterhängende Bändel akribisch zurückgebunden. Der Zug beschleunigt wie ein Flugzeug.

       TAG 10

       ELEKTROMOBILITÄT

      平遙

      Pingyao

      Freude schießt in uns, Elektrizität durch die Maschine, wir brausen davon. Wir belasten die beiden Räder mit hundertachtzig Kilogramm. Für wenige Minuten erreichen wir vierzig Kilometer pro Stunde. Elektromobilität ist in China ein Megatrend, für uns hingegen Neuland: Wir verschätzen uns. Bald fällt die Geschwindigkeit unter dreißig. Nach halber Strecke dämmert uns, dass wir es nicht schaffen. Wenig später schieben wir das schwere Gerät zum Bahnhof. Geschäftstüchtige Leute bringen umgehend koffergroße Batterien. Drei Stunden Ladezeit? Nein, danke. Die Alternative heißt stattdessen: verladen statt laden, selbstverständlich gegen unerhörtes Entgelt. Wir fahren mitsamt des Rollers auf der Ladefläche eines Elektrodreirades zurück.