HOLY COW, ÜBERNEHMEN SIE!
Mit Alma auf dem Rücksitz bricht die Rikscha schleudernd in einen Kreisverkehr ein, wo inmitten eines Rasenrondells auf einem hohen Sockel Gandhi, der dürre Wanderer, in Überlebensgröße und Goldbronze marschiert, die Augen unerschütterlich, trotz des Dezibelgewitters zu seinen Füßen, in die Ferne gerichtet. Mit einem Ruck, der Alma gegen den Rücken des Fahrers schleudert, landet die Rikscha ausgebremst hinter einem Tata Sumo, dem Geländewagen des größten indischen Autoherstellers Tata.
»Phhhh!« Da passt bloß noch ein hauchdünnes tulsi-Blättchen (indisches Basilikum) dazwischen.
Als ob die Welt angehalten wurde, steht urplötzlich alles still. Der Fahrer breitet die Arme aus und zuckt mit den Schultern. Nach ausgiebigem Protestgehupe nimmt er eine gemütliche Sitzposition ein, Beine über dem Lenker gekreuzt, lehnt sich zurück und gähnt. Alma ist verblüfft. Der gleiche Mann, der eben noch wie ein Berserker Furchen durch den Verkehr gepflügt hat, verwandelt sich plötzlich in einen Buddha der Ruhe. Verständnislos starrt Alma ihn an und verharrt selbst reglos.
Langsam verebbt das Hupkonzert. Aus den Gefährten um sie herum steigen mehr und mehr Männer aus, recken sich, dehnen die Arme über dem Kopf, rufen sich Fragen zu. Spontan entstehen Diskussionsrunden, über Autotüren gelehnt werden Plauschs per Handy geführt. Ein paar Männer schlängeln sich durch die Masse der Fahrzeuge weiter nach vorn, mit ausholenden Gesten rufen sie einem größeren Publikum Mitteilungen zu.
Was in aller Welt ist geschehen? Alma erklimmt das Trittbrett der Rikscha und reckt ihren Hals. Und dort, weiter vorne, entdeckt sie des Rätsels Lösung: eine Gruppe Kühe, fünf hellbraune Tiere mit bunt bemalten Hörnern. Die ganze Straßenbreite nehmen sie ein, haben sich vor Gandhi aufgereiht und blicken wiederkäuend zu ihm auf. Wollen sie sich ihm anschließen? Behäbig lässt sich eines der Tiere nieder. Männer scharen sich nach und nach um die Kühe, stemmen sich gegen die Kuhkörper, schieben, drücken, um sie in die Ausgangsrichtung zurückzubewegen, und reden ihnen dabei gut zu. In Anbetracht der erklärten Heiligkeit der Kühe klingt das dann wohl etwa wie: »Ihre Heiligkeit, würden Sie gnädigst geruhen, sich zu entfernen?«, stellt sich Alma vor und wünscht sich, jemand würde stattdessen in die Luft schießen, um Bewegung in den Laden zu bringen. Die Kühe verkörpern von Kopf bis Huf Unerschütterlichkeit, Monumente der Ewigkeit, wie Gandhi auf seinem Sockel, rühren sich nicht vom Fleck. Nun knickt auch noch eine andere schwerfällig ein und legt sich nieder.
»Das war’s dann wohl für heute«, seufzt Alma. Ist das nicht lächerlich? Fünf Kühe legen den Verkehr auf einer Magistrale der Hauptstadt lahm – andere Länder ... na ja. Eines ist klar, lange würde sie das nicht mitmachen, sie hat ja schließlich noch etwas vor. Das Rote Fort, eine Festungs- und Palastanlage aus der Zeit des Mogulreichs, kann nicht mehr weit sein, zur Not würde sie zu Fuß dorthin gehen.
Im nächsten Augenblick sieht Alma jedoch, wie ein Mann mit einem Bündel riesiger Rettiche im Arm vom Außenrand her die Szene betritt. Was hat das zu bedeuten? Action! Das will sie sehen! Einem Stierkämpfer gleich wedelt der Mann mit den Rettichen vor dem Maul der hintersten Kuh und setzt sich tänzelnd rückwärts in Bewegung. Das Tier reagiert prompt und dreht bei, unerwartet behände in Anbetracht der vorhergehenden katatonischen Darstellung, und strebt dem verlockenden Happen hinterher. Hinweg auch die träge Ruhehaltung der nächsten Kuh. Als auch die liegenden Tiere Witterung aufnehmen und sich aufrappeln, preschen alle Fünfe los und stoßen zwei Männer um, die unter Gejohle wieder aufgerichtet werden.
Und schon kehrt Leben zurück in die Masse der Fahrzeuge, die wie im Dornröschenschlaf der kommenden Dinge geharrt hat. Motoren heulen auf, Zweitakter knattern los, Hupen explodieren, Gandhi verschwindet in Abgaswolken. Im Vorbeifahren sieht Alma am Rand die Kühe träge auf den Rettichen kauen. Ein bisschen neidisch ist sie schon, mit welch unerbittlicher Sturheit diese sanften Tiere dem Rest der Verkehrsteilnehmer ihren Willen aufzuzwingen vermögen und dafür auch noch mit Leckereien belohnt werden. Hat sie da gerade etwa Gandhi ein Auge zukneifen gesehen?
HEILIGE KÜHE
Selbst heute noch ist der Schutz der Kuh in der hinduistischen Religion ein Dogma. Auch für jene, für die die Kuh nicht heilig, sondern nur ein bedeutendes Symbol ist, hat sie doch einen besonderen Stellenwert. Das Töten von Kühen wird in keinem Fall akzeptiert. Für die meisten Hindus, auch wenn sie keine Vegetarier sind, ist es ausgeschlossen, Rindfleisch zu essen. Die besondere Bedeutung der Kuh wird auch heutzutage noch darin begründet, dass sie ein Symbol der Mütterlichkeit, der Fürsorge und der Sanftheit ist und dem Menschen vier lebenswichtige Gaben spendet:
1 das ghee: Butterschmalz zur Zubereitung von Speisen und zur Verwendung bei sakralen Zeremonien, wie bei der Verbrennung der Toten und als Opfergabe für Götterstatuen und -Bilder,
2 der Mist: Brenn- und Baumaterial sowie Dung,
3 der Urin: Heilmittel,
4 die Milch: Eiweißlieferant.
Kühe gehören zum täglichen Straßenbild Indiens. Da sie praktisch immer Vorfahrt haben, stellen sie durch ihre pure Anwesenheit Verkehrsregeln auf. Wer eine Kuh im Straßenverkehr verletzt, kann bestraft werden. Die überall umherstreifenden Tiere sind übrigens nicht immer herrenlos; einige kehren abends unfehlbar zu ihrem Besitzer zurück. Da dieser für das Futter meist nicht aufkommt, fressen sie die Abfälle in den Straßen und auf den Basaren. Dabei verschlingen sie auch alle Arten von Kunststoffen, was zu ihrem qualvollen Tod führen kann.
Mit der Sicherheit eines Trapezakrobaten wirft sich der Fahrer wieder in den Verkehr, kreuzt, schneidet, überholt von rechts und links, drängelt in halsbrecherischem Tempo durch das Gewühl und dreht ungeduldig an Ampeln das Gas hoch, um dann mit einem Satz wieder loszubrausen. Was für ein Wahnsinn, denkt Alma.
In kürzester Zeit erreichen sie das Rote Fort. Einen Fünfzig-Rupien-Schein schon in der Hand fragt sie mit Blick aufs Taxameter: »How much?«, und runzelt die Stirn. Was ist denn das? Jetzt erkennt sie es: Die Zahlen auf dem Taxameter sind aufgemalt! Der Fahrer, der ihren Blick bemerkt hat, lässt die flache Hand auf den kleinen Kasten niedersausen, dass es rasselt.
»Not work!«, ruft er und schaut Alma vorwurfsvoll an.
Wie? Alma ist platt, ist das etwa ihre Schuld?
»One hundred rupies!«, proklamiert er nun den Fahrpreis mit der Miene eines vom Elend heimgesuchten Mannes.
Dreist! Das ist bestimmt das Doppelte des üblichen Preises! Mal wieder gibt es statt korrekter Abrechnung bloß Fantasie und Schneegestöber. Alma funkelt den kleinen Mann mit dem lässig gebundenen Halstuch wütend an und drückt ihm den Schein in die Hand: »Bas!« (Genug!) – das Wort hat sie von Friedrich –, macht auf dem Absatz kehrt und läuft mit großen Schritten auf das Rote Fort zu. Hinter sich hört sie einen Aufschrei, gefolgt von einer wilden Wortkaskade, unbeirrt läuft sie weiter. Er wird seine Rikscha nicht alleine lassen, um ihr nachzusetzen, vermutet sie. Flink und mit einem triumphierenden Lächeln taucht sie gleich darauf in einer Reisegruppe unter.
What’s the problem?
»Alma, Alma, nicht gerade die feine Art«, schüttelt Friedrich missbilligend den Kopf.
Aber, werden Sie vielleicht einwenden, hat Alma nicht einfach aus Selbstschutz gehandelt, um nicht schon wieder über den Tisch gezogen zu werden? Und doch, sie selbst trägt die Verantwortung dafür, dass sie ihre indischen Alltagsgeschäfte in angemessener Form abwickelt und für einen respektvollen Umgang mit Menschen sorgt. Und das bedeutet eben immer wieder, gut vorbereitet und stets wach zu sein. Dann sind solche groben Mittel überflüssig.
No problem – relax!
Mit ein paar klaren Verhaltensweisen an der Hand können Sie dem Abschluss einer Rikschafahrt ruhig entgegensehen.
1 Suchen Sie sich Ihren rickshaw-wallah (Rikschafahrer) immer selbst aus, fahren Sie nicht bei irgendeinem mit, der Sie