Karin Kaiser

Fettnäpfchenführer Indien


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Berichte eher Angst geschürt, als die Hintergründe differenziert zu erörtern. Es stimmt: Indien ist eine patriarchalisch geprägte Gesellschaft und Frauen sind grundsätzlich in einer schwächeren Position (siehe auch Episode 30). Und es muss betont werden, dass Indien international kein herausragendes Negativbeispiel ist, was Gewalt gegen Frauen betrifft. Hochgerechnet auf die jeweilige Einwohnerzahl liegt die gemeldete Zahl der Vergewaltigungen in anderen Ländern höher – wie auch immer die Dunkelziffer aussehen mag – und niemand hat für diese Länder je entsprechende Warnungen ausgesprochen.

      Die Frage, ob alleinreisende Frauen in Indien sicher sind, lässt sich nicht pauschal beantworten – wie auch in keinem anderen Land der Welt. Gerade in Indien, diesem gigantischen Subkontinent der Vielfalt und Extreme, kann das, was in einem Teil des Landes zutrifft, in einem anderen falsch sein. Nirgendwo auf der Welt gibt es einen hundertprozentigen Schutz vor Übergriffen. Frau kann jedoch mit gesundem Menschenverstand, guter Vorbereitung und stets wacher Vorsicht die Risiken auf ein Minimum reduzieren. Die Tipps für ein angemessenes Verhalten, die im vorigen Abschnitt benannt wurden, um Konfrontationen zu vermeiden, sollten in der Vorbereitung auf die Reise sehr ernst genommen und während der Reise befolgt werden. Auch der grundsätzliche Respekt vor der Kultur des Landes und die Anpassung an die ungewohnten Restriktionen vermindern die Wahrscheinlichkeit, in brisante Situationen zu geraten (siehe auch: Dresscode und Paare) In Situationen, die reisenden Frauen verunsichernd oder gefährlich erscheinen, ist es immer zu empfehlen, die Nähe anderer zu suchen. Speziell unter Frauen gibt es eine starke Solidarität, und Familien unterwegs werden immer bereit sein, Schutz und Hilfe zu gewähren. Wer sich selbstbewusst und einfühlsam auf die Andersartigkeit Indiens einlässt, kann unbeschwert ein faszinierendes Land mit unglaublich freundlichen Menschen entdecken – ohne sich unwägbaren Gefahren auszusetzen. Frauen, die schon vor Reiseantritt Angst empfinden bei dem Gedanken, welche Gefahren lauern könnten, sollten lieber von der Reise absehen. Angst ist ein schlechter Reisebegleiter.

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       STRASSENVERKEHR? NO PROBLEM!

       ANGRIFF DER KILLERWESPEN

      Der Anruf ist gleich morgens gekommen: »I am Karthik«, mit einem eigenartig kehligen, dunklen Akzent. Laute wie grob geschmirgelte Holzperlen.

      So also klingt der Süden, dachte Alma angenehm überrascht. Sie hatte allerdings Mühe, Karthiks Englisch zu verstehen. Was sie schließlich mitgekriegt hat: Die Drehzeit des Bollywoodfilms, bei dem er als Tonmeister mitwirkt, hat sich verzögert, er wird es nicht schaffen, nach Delhi zu kommen. Schade. Klang eigentlich ganz nett, das Macho-Kindermädchen. Aber deshalb sofort nach Mumbai aufbrechen? Auf keinen Fall! Jetzt, wo es gerade anfängt, Spaß zu machen. So vieles gibt es, was sie noch sehen will hier im Norden. Karthik hat ihr dann noch eine Menge erklärt über den Bundesstaat Bihar, Bahntickets und Zugfahren. Sein Englisch klang wie eine Fahrt über einen Hochgeschwindigkeitsparcours. Wo hörte das eine Wort auf, wo begann das nächste? Ein Wettrennen der Wörter.

      Genauso wie die Fahrt mit der Rikscha, in der Alma gerade sitzt. Einer wild gewordenen Wespe gleich flitzt die Nussschale auf drei Rädern mit nichts drum herum als einer flappenden Plane zwischen wankenden Trucks hindurch, wedelt tollkühn durch Lücken im Stau, drängelt sich fast im Hautkontakt zwischen zwei glänzende Karossen, immer die Nase vorn. Und der Fahrer – dauernd mit dem Finger auf der Hupe. Alle anderen auch. Stakkatohupen, Quaken, Tröten, ein schrillendes, dröhnendes, Trommelfell zerreißendes Hupkonzert.

      Gibt es eine tiefere Bedeutung hinter diesem Dauergehupe? Etwa nada brama, die ganze Welt ist Klang, und Hupen ist eine religiöse Teilhabe an diesem Sein? Oder ist Hupen eine Möglichkeit, sich in dem babylonischen Sprachengewirr zu verständigen? Alles knattert, brettert, braust, und Bremsen scheint nur als Vollbremsung mit kreischenden Reifen erlaubt zu sein. Vergiss Malariamücken! Das hier gilt es erst mal zu überleben!

      Alma stemmt ihre Füße fest auf den Boden des Gefährts, klammert sich an das Gestänge über ihr, Fingerknöchel weiß, und erwartet mit zusammengebissenen Zähnen jeden Augenblick den endgültigen Zusammenprall. Sind die alle irre hier? Offensichtlich befindet sie sich mitten in einer verrückten Autoskooterfahrt, nur ohne die dicken Schutzpuffer rund ums Gefährt. Hier ist sie selbst der Puffer! Minütliche Beinahzusammenstöße lassen sie erstarren. Mit dem Gedanken an die abendlichen Starschwärme über der Museumsinsel in Berlin versucht sie sich zu beruhigen.

      Die Vögel sollen über ein hochsensibles System verfügen, das Kollisionen verhindert, obwohl sie mit rasender Geschwindigkeit durcheinanderwirbeln. Hochsensibles System – ja, dafür schickt sie ein Bittgebet gen Himmel, dass es serienmäßig im Modell »Inder« eingebaut sein möge. Ansonsten scheint die Katastrophe unabwendbar.

      »Die fahren, als ob es kein Morgen gäbe«, ächzt Alma. Life is cheap, es gibt ja noch so viele andere? Sie würde am liebsten die Augen schließen, um diese Höllenfahrt auszublenden. Aber irgendwer muss hier ja wohl die Kontrolle behalten. Wer sonst als sie? Der Rest der Verkehrsteilnehmer ist offensichtlich komplett unzurechnungsfähig.

      Und schon – Rumms! – hat die Rikscha ein Fahrrad am Pedal erwischt, und ihr Fahrer schreit augenblicklich los: »Bhenchod! Salaah!« (frei übersetzt: Wichser!), und sendet Drohgebärden in Richtung des Opfers. Alma ist fassungslos. Der Radfahrer, Gott sei Dank unverletzt, tritt mit dem nackten Fuß gegen das hoffnungslos verbogene Pedal und brüllt zurück.

      Hinter ihnen schwillt das Hupkonzert bedrohlich an. Zu Almas Überraschung springt der Fahrer plötzlich aus der Rikscha, und nun treten sie zu zweit auf das Pedal ein. Pünktlich zur nächsten Grünphase ist der Spuk auch schon vorüber. Der Fahrradfahrer strampelt mürrisch davon, und Almas Fahrer rast, noch ein paar Verwünschungen ausstoßend, wieder hinein in diesen Sturzbach von Verkehr, der sich sechsspurig über die dreispurige Straße ergießt.

       RIKSCHAS

      Die Motorrikscha, meist einfach als auto, rickshaw oder auch als threewheeler bezeichnet, ist das bevorzugte Transportmittel im Stadtverkehr, zwar teurer als der Bus, aber viel billiger als ein Taxi. Erstmals 1948 in Italien von Piaggio produziert, ist die Rikscha quasi ein Motorroller auf drei Rädern, der mit einer metallenen Fußschale und einer Plastiküberdachung an mehreren Stangen ausgerüstet ist. Der Zweitakter röhrt wie ein Motorrasenmäher und wird auch manchmal wie dieser mit einem Zugseil angeworfen. Die Standard-farben sind schwarz-gelb oder grün-gelb. Wegen ihrer Wendigkeit und ihrer geringen Größe kommt die Rikscha im dichtesten Verkehr schnell voran. Oft ersetzt sie deshalb in eiligen Notfällen den Krankenwagen. Ihre Höchstgeschwindigkeit liegt ungefähr bei 50 km/h und beträgt bei normaler Fahrt etwa 35 km/h. Rechtmäßig darf sie drei Passagiere und einen Fahrer transportieren, doch wird dieses Maß oft um ein Vielfaches überschritten.

       What’s the problem?

      »Sabkutch (Alles), Alma!«

      In einer von einem Kamikazefahrer gesteuerten Eierschale den tobenden Kräften des indischen Straßenverkehrs ausgesetzt zu sein, ist, durch westliche Augen gesehen, ein ultimatives Szenario des Schreckens. Nichts läuft auch nur im Entferntesten so, wie wir es gewöhnt sind: Es droht akute Gefahr für Leib und Leben, die Dauer der Fahrt ist ungewiss, Verkehrsregeln existieren nicht. Chaos herrscht. Was könnte problematischer sein?

       No problem – relax!

      Gibt es eine Lösung für dieses Problem? Im Grunde: nein. Die einzig mögliche Haltung an dieser Stelle: Akzeptanz. That’s India. When you are in, you are in. Wenn Sie der Gedanke an das gefährliche Chaos jedoch zu sehr schreckt, gibt es die Möglichkeit, sich für jede Stadtfahrt ein echtes Taxi, z. B. einen Ambassador, zu mieten. Das ist sicherer – und unendlich viel umständlicher, teurer und zeitaufwendiger.

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