Karin Kaiser

Fettnäpfchenführer Indien


Скачать книгу

– und wirft mit einem unverständlichen Wortschwall beide Hände in die Luft. Die Kiste schlingert führerlos über die Mittellinie und rast in die aufgeblendeten Scheinwerfer eines Truckdämons. Panisch schlägt Alma die Hände vors Gesicht und hört den Laster vorbeidonnern. Das war knapp! »No prrrroblem! You see, very suuuuuper hotel!«, sieht sie den Fahrer durch ihre Finger in den Rückspiegel grinsen.

      Alma streicht sich die verschwitzten Haare aus der Stirn. Ihr ist übel.

      Draußen zieht in der Dunkelheit Brachland vorüber, gesäumt von riesigen Reklametafeln, auf denen Menschen – alle geisterhaft weißhäutig – strahlend auf sie herablächeln. Um die Bogenlampen wallen grünliche Nebelschwaden. Die Luft, die durch die halb heruntergekurbelten Autofenster dringt, schmeckt gelbgiftig. Sie drückt ihren Schal fest auf Mund und Nase, wagt kaum zu atmen.

       LUFTVERSCHMUTZUNG

      Bereits 1985 richtete die indische Regierung ein Umweltministerium ein. Genutzt hat es wenig – die Luftverschmutzung in den indischen Metropolen sucht ihresgleichen, und Neu-Delhi gehört noch immer zu den Städten mit der stärksten Luftverschmutzung weltweit. Obwohl im September 2002 die U-Bahn in Betrieb genommen wurde und sogar die Motorrikschas mit Erdgas durch die Straßen knattern, verdunkeln fast täglich, besonders im Winter, wenn wegen der warm-kalten Luftschichten der Smog nicht abziehen kann, Abgaswolken das Tageslicht. Schon jetzt verstopfen über vier Millionen Autos die Straßen von Neu-Delhi und täglich kommen fast 1.000 neue dazu. Der Staub der nie endenden Bautätigkeit und die unzähligen Dieselgeneratoren, die bei den täglichen Stromausfällen eingesetzt werden, tun ihr Übriges. Viele Motorradfahrer und Fußgänger tragen an den schlimmsten Tagen Gazemasken, um sich vor dem giftigen Luftgemisch zu schützen. Sollten Sie besonders empfindliche Atemwege haben, empfiehlt es sich, dass auch Sie sich mit einer solchen Maske ausrüsten.

      Nervös rutscht Alma auf dem Rücksitz des Ambassadors herum: »Was ist denn um Himmels willen im Pahar Ganj passiert? Ein Terrorangriff? Gibt es Verletzte? Tote?«

      Ihre aufgeregten Fragen prallen am Rücken des Fahrers ab. Das Lenkrad nun fest im Klammergriff brettert er, angetrieben von den fiebrig heißen Rhythmen aus den Boxen, durch menschenleere Straßen. Haltsuchend packt Alma ihren Koffer fester am Griff und tastet nach ihrer Handtasche mit den Papieren – wenigstens hat sie ihre Habe noch beisammen. Angst schnürt ihr die Kehle zu. Was kann sie bloß tun?

      Nichts. Sie ist dem Fahrer vollkommen ausgeliefert. Alma strafft ihre Schultern: Na, das schaff ich schon. Ich bin ja, Gott sei Dank, Berlinerin. Doch die von Marlene Dietrich entlehnte Beschwörungsformel scheint heute nicht zu greifen. Ihr Magen krampft sich zusammen.

       What’s the problem?

      »Herrje!« Friedrich schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. »Alma! Das ist ja nun gleich zu Beginn die volle Packung!«

      Touristenverschaukeln, tja, das ist ein Job in Indiens Megametropolen – nothing personal, überhaupt nicht persönlich gemeint. Pahar Ganj ist zu diesem Zeitpunkt völlig intakt, und der Fahrer darf sich auf eine Provision freuen, wenn er die in der menschenleeren Stadt hilflose Alma in einem Hotel ablädt, mit dem er einen Deal vereinbart hat. Nichts für ungut! Das Leben ist hart, und besser man ist flink und schlau und nimmt sich, was erreichbar ist. Und natürlich ist eine solche Situation, praktisch eine Entführung, für die Betroffenen zutiefst beängstigend und stressvoll.

      Zum Trost: In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle ist dabei niemals Gewalt im Spiel. Betrügereien und Schlitzohrigkeit: ja. Offene Bedrohung und Aggression: nein. Und noch ein Trost: Fast jeder tappt mal in so eine Falle. Die kleinen Gauner sind begnadete Schauspieler und überrumpeln geschickt verunsicherte Reisende. Und das sind wir alle, zumindest zu Beginn auf diesem fremden Planeten namens Indien.

      Direkt nach der Ankunft besteht an den Touristen-Hotspots immer das Risiko, von Schleppern oder Rikschafahrern übers Ohr gehauen zu werden. Und die Provision, die diese Schlepper von den Hotelbesitzern dafür bekommen, Ihnen ein Zimmer aufgedrängt zu haben, wird direkt auf den Zimmerpreis aufgeschlagen.

       No problem – relax!

      Um eine solche Situation, wie Alma sie gerade erlebt hat, zu vermeiden, gibt es die Möglichkeit, ein sogenanntes Prepaid-Taxi zu benutzen. Überall im Land befindet sich in jeder Flughafenankunftshalle ein offizieller Taxischalter, den Sie leicht beim Flughafenpersonal erfragen können, der auch gut sichtbar gelb ausgeschildert ist. Dort haben Sie die Möglichkeit, ein Taxi zu buchen. Sie geben Ihren Zielort an, zahlen den behördlich festgesetzten Preis, Ihr Name, Ihr Ziel und der Fahrer sind registriert. Selbst wenn der Fahrer versuchen sollte, am Ende der Route mit irgendwelchen haarsträubenden Geschichten noch mehr Rupien herauszuschlagen – alles ist beglichen. Sie befinden sich auf der sicheren Seite, buchstäblich.

      Leider haben sich in der letzten Zeit in Prepaid-Taxen immer wieder Überfälle auf allein reisende Frauen ereignet. Deshalb empfiehlt sich hier Vorsicht. Als Alleinreisende sollten Sie sich zu ihrem Schutz am Flughafen unbedingt anderen Reisenden anschließen, um ins Zentrum zu gelangen. Am Flughafen von Neu-Delhi haben Sie allerdings mit der Metro eine komfortable Alternative. Hier bringt Sie die Airport-Express-Linie in zwanzig Minuten absolut sicher in die Innenstadt. Einziger Nachteil: Der Fahrbetrieb beginnt erst um 4.45 Uhr morgens, das heißt, Sie müssen je nach Ankuft Ihres Fliegers einige Zeit im Flughafen verbringen.

      Ein Hotel müssen Sie nicht unbedingt vorab buchen: In Ihrem Reiseführer sind Hotels nach Standard aufgelistet und bewertet, sodass Sie sich gut informiert selbst auf die Suche machen können. Normalerweise. Denn drei oder vier Uhr morgens ist eben keineswegs »normalerweise«, sondern noch mitten in der Nacht, und eine Suche um diese Zeit vergeblich. Am einfachsten ist es natürlich, schon von Deutschland aus ein Zimmer in einem guten Hotel zu reservieren, am besten über ein Reisebüro, wo man sich beraten lassen kann. Außerdem gibt es im Internet viele Adressen samt ausführlichen Beschreibungen, Bewertungen und Fotos. Diese Hotels bieten auch einen Abholdienst an. Für den Betrag, den Alma für die betrügerische Taxifahrt loswerden wird, hätten diese ihr glatt zwei Autos geschickt, Wartezeit von jeweils vier Stunden inbegriffen. Eine sichere, relativ bequeme Methode.

      3

       ARMUT? NO PROBLEM!

       AUG’ IN AUG’

      »Verdammt, verdammt!«, murmelt Alma vor sich hin. Kalte Angst presst ihren Brustkorb zusammen. Völlig kraftlos hängt sie, mehr als dass sie sitzt, auf der Rückbank des Ambassadors. Der Wagen röhrt durch die Nacht, durch eine unwirtliche, verlassene Welt. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen, nur ab und zu taucht ein Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn auf. Millionen Menschen scheinen wie vom Erdboden verschluckt. Sie ist in einem Paralleluniversum gestrandet! Was soll bloß aus ihr werden?

      Plötzlich schreckt sie auf. Der Fahrer stoppt an einer Kreuzung. Mit offenem Mund starrt Alma hinauf zur Ampel. RELAX! Weiße Buchstaben auf leuchtendem Rot springen ihr in die Augen. RELAX! Gebieterisch, von oben herab gesprochen. Sie ist fassungslos. Ha, braust sie auf, will sie da jemand verhohnepipeln? Einfach mal so entspannen in diesem Horrorfilm, klar, no problem! Schaudernd zieht sie ihre Jacke trotz der Hitze enger um die Schultern und stiert aus dem Fenster, wirft der Ampel einen feindseligen Blick zu. Das Grün hält wenigstens die Klappe, sendet keine Befehle in weißen Lettern. Die Fahrt geht weiter, und sie hat keine Ahnung, wohin.

      Wie eine Erscheinung taucht in der Ferne eine dunkle Silhouette aus dem Nebel auf. Ein ungeheuerer Hügel, nein, ein Berg wächst urplötzlich aus der flachen Landschaft. Almas Augen verengen sich zu Schlitzen: Was ist das? Und was bewegt sich da? Sie beugt sich nach vorne und erkennt schattenhafte Wesen an den Abhängen. Riesige Krähen? Als der Wagen abermals hält, sieht sie in der nebligen Reflexion der Straßenlampen, dass Abhänge in ausgefaserten Rändern auslaufen, geschichtete Klippen aufragen, Hänge scharfkantig abbrechen, in Verwerfungen enden. Das ist Müll, dämmert