Katja Frehland

Fettnäpfchenführer Niederlande


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viele Niederländer die Deutschen nun zum Beispiel als gastfreundlich, offen und verlässlich bezeichnen. Doch bis heute gilt: Wer einen Niederländer als »typisch deutsch« bezeichnet, tritt garantiert in ein riesengroßes Fettnäpfchen.

       So ist’s oranje

      Dass Anne mit Bemerkungen wie »Du siehst aus wie ein Deutscher« nicht gerade auf Begeisterung stößt, wird sie bald merken – und so etwas in Zukunft lieber lassen. Sie sollte aber nicht beleidigt sein und es nicht als persönlichen Affront verstehen, auch wenn sie ja genau das ist, was der Niederländer nicht sein will: eine Deutsche.

      Natürlich ist es schwierig, wenn man als Deutscher in den Niederlanden (oder als Deutscher in Deutschland mit niederländischen Gästen) mit antideutschen Reflexen konfrontiert wird, wenn im eigenen Beisein kein Blatt vor den Mund genommen wird, wenn über die besserwisserischen moffen hergezogen wird. Anne sollte das mit Humor nehmen, so wie sich übrigens auch Niederländer selbst mehr und mehr in ihrer Antihaltung gegen Deutschland aufs Korn nehmen. In einer von Mund zu Mund verbreiteten Anekdote heißt es nicht ganz ohne Selbstkritik: Wenn der Niederländer wirtschaftliche Probleme hat, beschuldigt er die Deutschen. Wenn ein Krieg angezettelt wird, beschuldigt er die Deutschen. Wenn der Niederländer seinen Schlüssel verliert, beschuldigt er die Deutschen.

      Anne wird übrigens bald merken, dass zwar gerne über »das Deutsche an sich« gemeckert wird, aber nicht über sie persönlich. Denn diese Vorurteile lösen sich bei persönlichen Kontakten meist in Luft auf – zum Erstaunen der Niederländer, die dann mit einem ganz speziellen und sehr anerkennend gemeinten Kompliment reagieren, indem sie wie Jeroen konstatieren: »Du bist ja gar nicht typisch deutsch!« Ein größeres Kompliment kann ein Niederländer einem Deutschen kaum machen.

       AUSSEHEN WIE EINE NIEDERLÄNDERIN: TRACHTEN

      Garantiert nicht für Deutsche gehalten werden diejenigen Niederländerinnen, die heimische klederdrachten (Trachten) anziehen. In einigen kleinen Gegenden der Niederlande tragen ältere Frauen tatsächlich noch täglich ihre Tracht. Es gibt aber auch einige Ortschaften, in denen auch jüngere Frauen, Kinder und sogar Männer ihre traditionellen Gewänder noch häufig anlegen: Insbesondere in Volendam wird – aus touristischen Gründen – viel Tracht getragen, schließlich wurde und wird diese blau-weiß-rote klederdracht im Ausland durch »Frau Antje« (siehe Kapitel 1: »Im Land von Frau Antje«) gezielt vermarktet.

      Aber auch auf der Insel Marken (Nordholland) wird noch häufig klederdracht getragen – bei den Frauen kunstvoll gemusterte Oberteile in Rot- und Grüntönen bei unifarbenen, meist blauen Röcken; und bei den Männern dunkelblaue Jacken mit weißen Pumphosen. Auch z. B. in Staphorst (Overijssel), im benachbarten Rouveen, im Zwillingsdorf Bunschoten-Spakenburg (Utrecht), auf der zeeländischen Insel Walcheren oder in Scheveningen (Südholland) wird im Alltag noch häufig die Tracht hervorgeholt.

      Typisch für die niederländische klederdracht der Frauen ist die Kopfbedeckung, die aus einer recht einfachen weißen muts (Haube, Mütze) aus Baumwollstoff bestehen kann oder aus weiten, gestärkten Flügelhauben, wie sie z. B. in Volendam getragen werden, aber auch aus prachtvoll bestickten, reich verzierten, geknüpften oder spitzenbesetzten Hauben. Unter diesen meist hellen – bei Trauer schwarzen – Hauben wird oft ein silberner oder goldener, gelegentlich auch kunstvoll verzierter Reifen getragen: der oorijzer, unter den wiederum eine dünne muts aufgezogen wird.

      Typisch für die niederländische Tracht der Frauen ist auch die sogenannte kraplap – eine meist quadratisch genähte Schulter- und Brustbedeckung. Ursprünglich gehörte die kraplap zur Unterwäsche und wird auch heute noch gelegentlich versteckt oder unter Tüchern getragen. Bei vielen niederländischen Trachten hat sich die kraplap jedoch zum dekorativsten, äußerst kunstvoll verzierten und oft perlenbesetzten Außenstück der klederdracht entwickelt.

      7

       EIN TÄSSCHEN IN EHREN

       KAFFEEKULT UND GEZELLIGHEID

      »Normalerweise tue ich mir das nicht an«, sagt Jeroen zu Anne, als er ihren Rucksack in den geöffneten Kofferraum des dunkelblauen Peugeot 206 wirft. »Ich fahre sonst immer Fahrrad.«

      Mit einem lauten Knall schließt er den Kofferraum und schwingt sich neben Anne, die schon auf dem Beifahrersitz wartet. »Alles klar?«, fragt er, sieht etwas frech zu ihr herüber und startet den Motor. »Dein Gepäck ist vor zwei Tagen bei mir angekommen. Wir holen es jetzt ab, und dann fahren wir zu deiner Wohnung, okay?«

      Ja, klar, Anne nickt. Sie kurbelt das Fenster der Beifahrertür herunter. Ein süßlicher Geruch von selbst gedrehten Zigaretten, vermischt mit feuchter, leicht modriger Luft strömt durch das Fenster. Trotz beginnender Dunkelheit herrscht hektisches Treiben am Bahnhof. Unzählige Menschen eilen oder schlendern vorüber, viele mit Rucksäcken, Asiaten, Europäer, Schwarze, eine vermutlich amerikanische Touristengruppe in kurzen Shorts, Frauen in Businesskleidung, ein junger Mann mit Rastazöpfen, der auf dem Boden sitzt und Gitarre spielt. Anne hat schon viel über diesen Platz vor Amsterdam Centraal direkt am Hafen gehört: Zur warmen Jahreszeit ist es hier bunt und voller Leben, hier treffen sich Straßenhändler, Musikanten und Touristen aus aller Welt, hier befinden sich zahlreiche Hotels und von hier aus kann man mit Straßenbahnen und Bussen in jeden Winkel der Stadt fahren.

      Während Jeroen das Auto langsam, aber gekonnt aus der Parklücke manövriert, wirft Anne einen Blick zurück auf das reich verzierte Bahnhofsgebäude mit seinen zwei Türmen. Kaum zu glauben, dass dieses große Gebäude, das Ende des 19. Jahrhunderts aus rotem Backstein gebaut wurde, auf Tausenden Holzpfählen steht.

       AMSTERDAM – EINE STADT AUF PFÄHLEN

      Der Hauptbahnhof Amsterdam Centraal wurde auf drei künstlichen Inseln im alten Hafenbecken errichtet und steht auf über 8.000 Holzpfählen, die das Gebäude vor dem Absacken bewahren. Diese Bautechnik ist für Amsterdam typisch. Denn die im Mündungsdelta der Amstel erbaute, etwa 800.000 Einwohner fassende Stadt liegt wie ein Drittel der Niederlande unter dem Meeresspiegel. Genau wie Venedig ist Amsterdam auf rund 100 Inseln gebaut, die durch unzählige Kanäle bzw. Grachten und Brücken verbunden sind. Deshalb stabilisieren ungefähr fünf Millionen tief in den Untergrund getriebene Pfähle die Fundamente.

      Erst durch diese Bautechnik konnten die wohlhabenden Kaufleute, die im 16. und 17. Jahrhundert von Amsterdam aus Handel mit Gewürzen und Sklaven betrieben und die Stadt zu Reichtum brachten, ihre eleganten Ziegelhäuser und Stadtpaläste errichten. Anders als die leicht brennbaren Holzhäuser, die man zuvor gebaut hatte, mussten die modernen Häuser viel stärkere Fundamente haben, um auf dem feuchten und morastigen Boden des IJ – einem eingepolderten, also durch Deiche und Pumpen trocken gehaltenen Meeresarm der ehemaligen Zuidersee – aufrecht stehen zu können. (Zur ehemaligen Zuidersee siehe Kapitel 11: »Kekschen zum Kaffee?«; zum Begriff »Polder« siehe Kapitel 22: »Land voller Frösche«.)

      Viele Gebäude wie der Hauptbahnhof oder der Königliche Palast stehen bis heute auf den alten Holzpfählen – und auch heute noch wird jeder Neubau der Stadt weiterhin mit Pfählen stabilisiert.

      Allerdings kommen inzwischen wegen der Gefahr der Vermoderung keine Holzpfähle mehr zum Einsatz, sondern Betonpfähle. Diese modernen Pfähle reichen – je nach Größe und Gewicht der Gebäude – bis zu 60 Meter in die Tiefe.

      Aus dem Auto heraus sieht Anne, die sich gemütlich von Jeroen durch die Stadt fahren lässt, seit einigen Minuten Wasser, Hafengebiete, Sandberge, Lastwagen, kleine und große Kräne, verschiedene Frachtschiffe, dazwischen ein paar Motorboote. Links stehen hohe Häuser, wahrscheinlich Bürogebäude. So hat sie sich Amsterdam eigentlich nicht vorgestellt, eher romantisch mit schönen, alten