als Austauschschüler übermannen mich. Wie ich mit sechzehn, vor nunmehr zehn Jahren, ängstlich und allein aus dem Flughafen trat, nur mit einem T-Shirt der Organisation als Erkennungszeichen. Und wie herzlich mich dieses Land damals aufnahm, durch die Leitung des Austauschprogramms, mit wortwörtlich offenen Armen. Sofort sind diese Empfindungen wieder da. Ich bin wieder da. Herrlich!
Vielleicht haben auch nur ein paar findige Marketingstrategen diese wohlriechende Akazienart in die Flughafenauffahrt gepflanzt, um eine emotionale Verbindung mit der Einreise herzustellen. In jedem Fall katapultiert mich mein olfaktorisches Gedächtnis um zehn Jahre zurück.
Derselbe Grund, der mich heute hierherführt, trieb mich auch damals schon an: Ich wollte schon immer alles ein wenig extremer machen als die anderen. Daher entschied ich mich gegen einen Auslandsaufenthalt in den USA und wählte das am weitesten entfernte Land der Welt. Das war noch vor dem ersten »Herr der Ringe«-Filme. Bevor Neuseeland in deutschen Kinosälen in Werbespots mit den landschaftlichen Highlights des Landes warb. Ich kannte damals niemanden, der jemals so weit gereist war. Niemanden, der je in Neuseeland gewesen wäre. Und ich hatte völlig falsche Vorstellungen von dem Land. Mein naives sechszehnjähriges Ich verband es mit dem Süden, und im Süden war es warm. Natürlich hatte ich schon mal was vom Äquator gehört und von den Wendekreisen der Sonne. Dennoch: Die Südsee lag nicht weit entfernt von Neuseeland, zumindest von Mitteleuropa aus betrachtet, und Australien war gleich um die Ecke. Ich rechnete also mit subtropischen Temperaturen. Wie überrascht ich damals doch war, als ich im Juli in Auckland landete und der Rasen mit Reif überzogen war! Und wie einsam und verloren ich mich fühlte, als ich mit zehn anderen Austauschschülern in einem engen Van auf dem Highway One gen Süden fuhr, während der Fahrer gut gelaunt bei offenem Fenster trotz Eiseskälte ein Liedchen trällerte. Damals wie heute hatte ich nur eine lange Hose dabei. Denn damals wie heute hatte ich irrtümlich angenommen, den Sommer für ein Jahr lang nicht zu verlassen. Doch nun ist es bereits Ende Februar, der letzte Sommermonat auf der Südhalbkugel neigt sich. Und ich will noch mindestens zehn Wochen bleiben.
Manche Dinge ändern sich nie, denke ich schmunzelnd und steige als Letzter in den Bus. Wir durchqueren ein paar Straßenzüge, die noch immer dem Bebauungsplan von 1929 entsprechen. Die Häuser haben hier weder einen Keller noch ein Obergeschoss. Warum auch, wenn doch so viel Platz ist. Für so ein Grundstück müsste ich in Oberbayern ein paar Millionen hinblättern. Hier wird es von mittellosen Studenten bewohnt. Kurz darauf befinden wir uns bereits auf dem Highway One, der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung des Landes. Versonnen betrachte ich die vorbeiziehende Landschaft. Auckland ist Teil des Pazifischen Feuerrings, die Stadt liegt verteilt auf fast fünfzig erloschenen Vulkanen. Heute sind viele der erkalteten Hügel zur besseren Bebauung abgetragen, doch noch immer ist gut zu erkennen, wie bergig die Region trotz der schmalen Landbrücke zwischen den Küsten ist.
Einmal kurz streifen wir die Küste am Pahurehure Inlet, einer der zahllosen Buchten im Stadtgebiet. Auckland bietet vermutlich mehr Zugang zum Wasser als jede andere Stadt der Welt. Allein der Haupthafen im Stadtzentrum nahe der berühmten Harbour Bridge und dem Sky Tower bietet Platz für 1400 Segelboote. Das sind mehr als in jedem anderen Hafen der gesamten südlichen Hemisphäre. Tatsächlich gibt es weltweit keine andere Stadt, in der es mehr Boote pro Einwohner gibt. Daher trägt Auckland auch den Beinamen »City of Sails«.
Als wir uns ein gutes Stück südlich der Metropolregion befinden, stelle ich fest, dass der Highway inzwischen in beiden Fahrtrichtungen zweispurig ausgebaut ist. Vor zehn Jahren gab es nur eine Spur pro Richtung. Alle zehn oder zwanzig Kilometer führte die Schnellstraße mitten durch eine kleine Ortschaft. Es gab keine Ausfahrten im Sinne von deutschen Autobahnen. Der Verkehr drosselte einfach ein wenig die Geschwindigkeit. Wer abbiegen musste, blieb einfach stehen und wartete, bis sich eine Lücke auftat. Wer einkaufen wollte, hielt auf dem Seitenstreifen vor dem örtlichen Supermarkt. Es war nicht zuletzt dieser provinzielle Charme, der dafür sorgte, dass ich mich in Neuseeland verliebte.
Heute gibt es Umgehungsstraßen. Das enttäuscht mich ein wenig. Gut, der Highway One ist immerhin die meistbefahrene Straße des Landes, aber das Verkehrsaufkommen entspricht bestenfalls dem einer mittelgroßen deutschen Landstraße. Doch offensichtlich hat der Fortschritt in den letzten zehn Jahren auch vor Neuseeland nicht Halt gemacht. Ich bin gespannt zu sehen, was sich noch alles verändert hat.
Ngāruawāhia
Eine Stunde südlich von Auckland, kurz vor Hamilton, hält der Busfahrer in einem kleinen Ort namens Ngāruawāhia. Dieser Zungenbrecher von einem Ortsnamen ist mein Stopp. Aufgeregt, gleichermaßen nervös wie voller Vorfreude, nehme ich meinen Rucksack und eile zur Tür. Hier bin ich vor zehn Jahren zur Schule gegangen. Hier lebt nach wie vor meine Gastfamilie von damals. Vor wenigen Wochen erst, als ich mir das Ticket für den Flug kaufte, trat ich nach langer Zeit wieder mit ihnen in Kontakt. Ich schrieb ihnen, dass ich kommen würde. Sie zögerten nicht einen Augenblick und luden mich umgehend zu sich ein.
Die Tür schwingt auf – und Evelyn grinst mir vom Parkplatz aus entgegen. Eine herzliche Umarmung später ist alles so vertraut wie vor zehn Jahren. Evelyn ist eine Frau im besten Alter mit einem schelmischen Lachen und kurzen braunen Haaren, in die sich immer mehr grauen Strähnen mischen. Sie hat vier eigene Kinder großgezogen, die inzwischen über das gesamte Land und die Welt verteilt leben – und unzählige Pflegekinder.
In Neuseeland gibt es keine Waisenhäuser, sondern es gibt Familien wie die von Evelyn und ihrem Ehemann Dave, die Kindern in Not ein Heim auf Zeit bieten. Meist sind dies Kinder von Alkoholikern oder anderen Suchtkranken, die sich in Therapie befinden, oder eben Vollwaisen. Ich erinnere mich schon auf der Heimfahrt an das ständige Tohuwabohu, das in ihrem Haus herrschte. Zeitweise waren wir bis zu elf Kinder auf einmal. Und natürlich waren nicht nur Sonnenscheine darunter, das ist bei dem seelischen Rucksack, den solche Kinder mit sich herumtragen, klar. Manche waren verträumte Einzelgänger, die mit sich selbst redeten, andere schüchtern, aber enorm höflich – und manche neigten zu Gewalttaten und unvorhersehbaren Wutausbrüchen. Ich erinnere mich an einen Zwölfjährigen, der öfter Beschwerdebriefe von den Lehrern mit nach Hause brachte als Hausaufgaben. Oder einen erst vierjährigen Bub, der leider nie richtig zu sprechen gelernt hatte und sich nur Aufmerksamkeit zu verschaffen wusste, indem er seinen Nebenmann in den Arm biss.
Mit liebevoller Strenge manövrierten Dave und Evelyn dieses Schiff voller Verrückter durch Kindheit und Pubertät. Wir Älteren wurden mit in die Verantwortung genommen, und so wurden ihre leiblichen Kinder – die etwa in meinem Alter waren – zwangsweise schneller erwachsen als die meisten Teenager. Auch ich wurde von Anfang an als vollverantwortliches Familienmitglied eingespannt – und teilte die Zeit auf dem Trampolin so fair wie möglich ein: Erst ich, dann alle anderen. Hey, was will man erwarten, wenn man die Verantwortung über das Trampolin einem Sechzehnjährigen überträgt?
»Wie viele Kinder habt ihr gerade?«, frage ich Evelyn.
»Och, fast gar keine. Nur vier«, lacht sie.
Das klingt tatsächlich ganz entspannt. Ihre eigenen Kinder sind alle ausgezogen, und so betreuen sie derzeit nur vier Pflegekinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren.
»Die Zeiten, in denen wir immer Ja sagen konnten, sind vorbei. Wir werden auch älter.«
Aber nicht minder umtriebig, wie ich bald feststelle. Dave, Evelyns Ehemann, dessen Brille so groß wie sein Herz ist, hat schon immer ein erfinderisches Leben geführt, und er scheint nicht vorzuhaben, damit aufzuhören. Er war schon Besitzer mehrerer Fish-&-Chips-Buden, hat bei der Gemeinde gearbeitet und stellt aktuell Kinderspielzeug aus Holz in Eigenarbeit her. In seinem Garten hielt er sich damals, vor zehn Jahren, ein gutes Dutzend Hühner, drei Rinder (mit den unheilschwangeren Namen Schnitzel, Rump Steak und Filet Mignon) und sechs Emus. Jawohl, Emus. Die stammen zwar eigentlich aus Australien, schmecken aber auch in Neuseeland hervorragend. Obwohl seine Familie nie wirklich wohlhabend war, erfüllte er mit seinem Erfindergeist doch stets alle Bedürfnisse und mehr. Die Hälfte des damaligen Hauses bestand aus nicht mehr als Pressspanwänden, weil er aufgrund der Vielzahl an Kindern, die es bevölkerten, mal eben einen Ostflügel in Eigenregie anbaute. Das Dach war dicht und die nicht isolierten Wände warm genug, zumindest für Neuseeland.
»Wie