Götz Nitsche

Bonusland


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Kehle so groß wie die Papayas, die überall an den Bäumen hingen. Leider schmeckte er nicht so gut.

      Wie sollte ich allein überhaupt zurechtkommen? War mein Spanisch wirklich gut genug? Was, wenn ich meine Kreditkarte verlor, wer würde mir aushelfen? Ich hatte nun alle Zeit und alle Freiheiten der Welt. Nur – wie sollte ich sie nutzen? Ich musste an Steffen denken, der seit ein paar Wochen allein mit dem Fahrrad unterwegs war, und meine Bewunderung für ihn wuchs ins Unermessliche. Unter dieser verdammten Palme vor diesem verdammten Flughafen fühlte ich mich so klein wie noch nie in meinem Leben.

      Ich fuhr mit einem Bus – dieses Mal tauchte einer auf – zurück zur Hauptstadt, um dort die Nacht zu verbringen. Einsam und gedankenleer starrte ich aus dem Fenster. Ich fühlte mich ausgelaugt. Nicht mehr ganz so ängstlich wie noch vorhin, aber Vorfreude fühlte sich definitiv anders an. Das hatte ich mir anders ausgemalt, als ich das Ticket gebucht hatte. Ich hatte gedacht, dass ich stärker sei. Irgendwann setzte ich meine Kopfhörer auf und hörte Musik, um mich abzulenken. Irgendwelche Sommermusik. Energiegeladen, gitarrenlastig. Volle Pulle. Ich atmete tief ein. Ein Mann betrat den Bus, schob sich mit einem Korb voller Pupusas durch die Reihen. Warum nicht?, dachte ich und kaufte einen der gefüllten Maisfladen.

      Und plötzlich, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen und beschloss, dort zu bleiben. Mit einem Mal erkannte ich das Gute am Alleinreisen, ich sah die Vorzüge, die sich mir boten: Ich konnte Musik hören, wann ich wollte, reisen, wohin ich wollte, essen, wann ich Hunger hatte. Und ich konnte meine Ruhe haben, wenn mir danach war, und würde sicher auch jemanden zum Reden finden, wenn ich Lust darauf hatte. Ich reise gern allein, beschloss ich. Weil ich tun und lassen kann, was ich will. Unbewusst war das Lächeln zu einem breiten Grinsen geworden. Jawohl, dachte ich. Ich reise gern allein.

      Vom unerwarteten Enthusiasmus beschwingt, suchte ich eine hospedaje für die Nacht in San Salvador. Das Schicksal würde es gut mit mir meinen, beschloss ich. Ich müsste mich nur mutig allen Herausforderungen stellen.

      * * *

      Ohne dass ich es ahnte, war das Schicksal in dem Gasthaus, für das ich mich schließlich entschied, bereits anwesend und streckte mir seinen Hintern entgegen. Es steckte in einer Radlerhose und spannte sich gefährlich über seinen gesammelten Erfahrungen. Eine mittelalte Dame ragte aus der Hose hervor, gebückt und pfeifend. Sie kramte in den Satteltaschen eines stattlichen Trekkingrads. Als sie mich endlich bemerkte, richtete sie sich auf, um mich vorbeizulassen.

      »Oh, hello«, grüßte sie höflich. Sie hatte ihr Rad in den kühlen Flur der hospedaje gerollt und schien sich erst mal sortieren zu müssen. Offensichtlich war sie eben erst eingetroffen. Ich fragte sie, wo sie gerade herkam.

      »Aus London«, antwortete sie fröhlich, als sei das der Name der Stadt gleich nebenan.

      »Muss ein langer Tag gewesen sein«, hätte ich antworten sollen. Stattdessen glotzte ich wie eine Kuh beim Melken und versuchte einzuordnen, wer von uns beiden plemplem war.

      Sie lachte über meinen Gesichtsausdruck. Aber sie blieb dabei und erzählte mir ihre Geschichte: Anderthalb Jahre zuvor sei sie aufgebrochen, durch Europa und Asien geradelt, immer weiter, bis sie schließlich in Peking das Meer erreicht habe. Dort, so erfuhr ich, hatte sie sich einen Flug nach Alaska gekauft, im Sommer dieses Jahres. Seither befand sie sich auf der Reise nach Feuerland. Wenn sie schon Europa und Asien mit dem Fahrrad durchquerte, warum nicht mal noch eben den amerikanischen Kontinent auf dem längsten möglichen Weg?

      Ich war tief beeindruckt. Die Frau war sicherlich über fünfzig. Ihre Radhose war so weit, dass ich sie als Handtuch hätte verwenden können (allerdings lieber nicht in diesem Moment), und dazu passte auch der dazugehörige Hintern. Die gute Frau sah alles andere als sportlich aus. Zudem reiste sie allein und sprach kaum ein Wort Spanisch. Trotzdem schien sie bei bester Laune und Gesundheit zu sein und insgesamt so weit ganz gut voranzukommen. Etwa 30.000 Kilometer habe sie bereits auf dem Tacho, erzählte sie.

      Sie hatte diese Unterhaltung schon öfter geführt, vermutlich um die 500 Mal. Mit jedem Kilometer, den sie sich von ihrer Heimat entfernt hatte, wurde ihre Geschichte beeindruckender. Und sie schien jeden dieser Kilometer zu genießen.

      Ich musste zugeben, das war kein schlechter Aufhänger für ein Gespräch. Für den Rest ihres Lebens würde es ihr an Geschichten beim Smalltalk gewiss nicht mangeln. Ich fragte sie, ob es denn gar keine Gefahren gegeben habe auf ihrer Reise. Immerhin dürfte das eine oder andere instabile Land darunter gewesen sein.

      »Irak, Iran, das sind wunderschöne Länder«, schwärmte sie. »Und die Menschen sind so unglaublich gastfreundlich.« In Pakistan sei ihr einmal die Tasche mit ihrem Werkzeug gestohlen worden. »Aber«, sagte sie, »das war Pech. Das hätte ebenso gut schon in England passieren können.« Daraufhin hatte sie alles in einem britischen Online-Shop nachbestellt und mehrere Wochen gewartet, bis die Ausrüstung eintraf.

      »Das dürfte eine ganze Weile gedauert haben«, sage ich. Sie zuckte mit den Schultern.

      »Zeit ist eigentlich nicht mein Problem.«

      Ich lachte und nickte verständig, denn Zeit hatte ich schließlich auch. Und dennoch konnte ich mir in dem Moment noch nicht einmal ansatzweise vorstellen, was sie damit eigentlich meinte. Denn ich war einfach in ein Flugzeug gestiegen, um weniger als einen Tag später auf einem anderen Kontinent, acht Zeitzonen entfernt, in einem Pool zu liegen und die Zeit zu genießen, während ich andere Menschen dafür arbeiten ließ, mein Gepäck wiederzufinden. Das war kaum drei Wochen her gewesen, in demselben Land, in dem ich mich immer noch befand, beinahe sogar in derselben Stadt. Diese Frau hingegen, wie sie vor mir stand in ihrer Radlerhose und mit dem Dreck der Panamericana auf der Stirn, kam aus derselben Ecke der Welt wie ich, zumindest von unserem derzeitigen Stand-punkt aus betrachtet. Doch sie hatte sich jeden Meter des Weges erarbeitet. Ihre Zeit war eine völlig andere als meine. Der Weg ist wohl das Ziel, dachte ich, ohne die Bedeutung des Satzes wirklich zu begreifen.

      »Macht es denn Spaß?«, fragte ich. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie man anderthalb Jahre Vergnügen an der immer gleichen Tätigkeit haben konnte. Musste das nicht bald ziemlich eintönig werden?

      »Oh, unwahrscheinlichen Spaß sogar«, strahlte die Frau. »Wissen Sie, man reist viel bewusster, wenn man langsam reist. Ich bin manchmal überrascht, was mir auf dem Sattel für Gedanken kommen. Da hat man mal Zeit, über Dinge nachzudenken, die sonst auf der Strecke bleiben. Und zugleich nimmt man seine Umgebung viel intensiver wahr, als wenn man nur aus dem Fenster eines Autos schaut. Zu Hause habe ich zwanzig Jahre lang meine Kinder großgezogen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Kinder, aber ich war pausenlos am planen. Den morgigen Tag, das nächste Abendessen, den nächsten Familienurlaub. Nie hatte ich Zeit, mal so richtig den Nachmittag zu genießen. Nie hatte ich Zeit, mal auf das zu hören, was ich wollte. Aber beim Fahrradfahren ist das anders. Da kann man den Moment so richtig genießen. Da lebt man mal so richtig im Hier und Jetzt.«

      Nachdenklich kratzte ich mich am Bauch. Ich begriff schon, was sie sagte, aber ich verstand sie nicht wirklich. Ich war eigentlich froh, dass ich immer etwas zu tun hatte, dass es immer etwas zu organisieren gab. Das hielt mich auf Trab.

      Doch ihre strahlenden Augen ließen mich nicht mehr los. Mir war zwar nicht ganz klar, was sie so zum Leuchten brachte, doch ich wünschte es mir für mich ebenfalls. Also beschloss ich, in Zukunft unorthodoxeren Reiseweisen gegenüber aufgeschlossener zu sein.

      »Er ist weg!«, schrie ich panisch. »Der Zahn ist weg!«

      Pete lachte, als er zu mir herüberpaddelte. Es war dasselbe breite, schiefe Lachen, das er im Grunde allen Sorgen entgegensetzte.

      »Das ist mir auch schon passiert«, grinste er.

      Verdammt! Das erklärte vermutlich, warum er so schiefe Zähne hatte. Wieder fuhr ich mit der Zunge durch meinen Mund. Da, wo mein linker Schneidezahn sitzen sollte, klaffte ein tiefes Loch. Es war Zeit für Panik! Waaaaah!

      In einem albernen Versuch, die sprichwörtliche Nadel