Скачать книгу

anders an, als wenn man als Teenager auf das Fußballspiel im Hof verzichtet, um in Ruhe ein Buch zu lesen. Ich war nicht nur allein, ich war einsam. Ich sehnte mich plötzlich nach einem vertrauten Umfeld, nach Menschen, die ich kannte, nach Sicherheit. Und auf der anderen Seite, redete ich mir ein, sollte das eigentliche Abenteuer endlich beginnen. Stattdessen saß ich den ganzen Tag nur im Pool.

      Aber genau da lag das Problem: der Pool – und sonst nichts. Das Einzige, womit ich mich auseinandersetzen musste, war der schnellste Weg von meinem Bett zum Pool und zurück. Nicht, weil es nötig gewesen wäre, morgens eine Liege zu reservieren, denn zusammen mit dem anderen Deutschen war ich der einzige Gast im Hostel. Nein, ich hatte aufgrund der aggressiven, blutsaugenden Moskitos ein Bedürfnis, schnellstmöglich zwischen Wasser und Schlafgemach zu wechseln. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, gerade dann am aktivsten zu sein, wenn die Sonne unterging und man den Pool verließ, um die Reste seiner verschrumpelten Haut in wärmenden Stoff zu wickeln.

      Das Resultat blieb jedoch dasselbe: Nur zwei Tage nach meiner abenteuerlichen Ankunft im El Salvador fühlte ich mich wie ein Pauschalurlauber auf Gran Canaria. Etwas musste sich ändern. Nur was? Das Abenteuer genügte mir nicht, doch gleichzeitig wuchs es mir über den Kopf. Ich war einsam, wollte aber dennoch endlich losreisen. Ich musste feststellen, dass ich vor der Abreise keine Ahnung gehabt hatte, wie sich eine solche Reise anfühlen würde.

      * * *

      Am dritten Tag geschahen zwei erwähnenswerte Dinge. Zum einen rief ein Mitarbeiter des Flughafens an. Die Frau des Hostelbesitzers – eine nette junge Einheimische – ging an den Apparat.

      »Sie haben eine gute und eine schlechte Nachricht«, rief sie mir zum Pool herüber. Eine schlechte Nachricht? Hoffentlich war das Gepäck noch vorhanden. Nervös eilte ich zu ihr.

      »Sie haben dein Gepäck gefunden«, sagte sie strahlend.

      »Und was ist die schlechte Nachricht?«, fragte ich misstrauisch.

      »Nun ja«, sagte sie. »Es ist in Mexiko.«

      In Mexiko? Bei meinem Umstieg in Panama mussten die Mitarbeiter etwas verwechselt haben. Vollidioten, dachte ich grimmig. Ich fand, ich durfte das denken, denn ich legte auch an meinen eigenen Handlungen einen strengen Maßstab an. Manch einer würde behaupten, ich sei ein Streber. Ich hatte immer die besten Noten, trieb täglich Sport, verstand mich mit den Lehrern. Und ich hätte nie im Leben ein Gepäckstück, auf dem San Salvador steht, nach Yucatán geschickt. Vollidioten! Immerhin versprachen sie, es mit dem nächsten Flieger nach El Salvador zu bringen und mir zuzustellen.

      Das zweite erwähnenswerte Ereignis war die Ankunft von Clara. Clara war meine beste Freundin aus Studienzeiten, die zufällig für die ersten paar Wochen in der Nähe war, wenn man denn Los Angeles als Nähe bezeichnen wollte. Sie hatte Lust auf einen Abstecher nach Süden, und ich war ehrlich gesagt froh, dass ich mein Jahr allein zu zweit beginnen konnte. So viel zu meinem gespaltenen Verhältnis zu dieser Reise. Ich wollte das Abenteuer. Ich wollte allein reisen. Aber insgeheim schlackerten meine Knie vor Angst. Also hatte ich Clara für die ersten drei Wochen eingeladen, mit mir durch Mittelamerika zu reisen. Sie gesellte sich zu mir in den Pool und war fest entschlossen, ihren Rückstand an Cuba Libres noch am selben Tag aufzuholen.

      Clara gehört zu der Sorte Frauen, die um vier Uhr früh, wenn der Club zumacht, noch darauf besteht, vor dem Schlafengehen eine Rum- oder Schnapsverköstigung in ihrem Wohnheim durchzuführen. Ich habe mehr selbst kreierte Toffifee- und Nutella-Eierliköre bei ihr zu mir genommen als vollwertige Mahlzeiten und war daher nicht überrascht, dass sie zur Begrüßung einen 57-prozentigen Schnaps mitbrachte. Clara war da, und mein Gepäck kam am nächsten Morgen! Ich war unendlich erleichtert, wegen beidem. Und dennoch hätte ich niemals zugegeben, dass ein Pauschalurlaub mit Freunden auch seinen Reiz hat. Es rief das Abenteuer! Endlich konnte die Reise beginnen!

      Wir reisten ein wenig durch El Salvador, erkundeten das Land von der Küste bis in die Berge. Es hatte optisch keine wirklichen Highlights zu bieten, alles sah irgendwie gleich aus, und auf jedem saftigen, grünen Blatt lag eine Schicht aus dickem Staub. Dennoch fand ich es auf eine dreckige Art charmant. Ich war zufrieden, so wie es lief. Ich konnte Clara ein bisschen beeindrucken, als ich, ohne zu zögern, auf die Ladefläche eines Pick-ups kletterte und ihr die Hand reichte. »Das machen die hier so«, sagte ich. »Alles easy.« Es war die richtige Portion Abenteuer, häppchenweise dosiert. Mal hörten wir eine Geschichte, dass einem anderen Reisenden der Pass geklaut wurde, mal wurde der Backpacker im Bungalow neben uns von einer giftigen Spinne gebissen. Das Abenteuer war da, aber die schlechten Dinge passierten den anderen. Wenn wir reisen wollten, winkten wir einfach einem der zahllosen Busse, die im halsbrecherischen Tempo über die Straßen donnerten, und reisten für wenige Dollar durchs halbe Land. Abends liefen wir im Zentrum, völlig egal in welcher Stadt, einfach durch die Gassen, und nach wenigen Minuten bot uns jemand ein Gästezimmer an. Wenn wir Hunger hatten, war der nächste Imbiss nicht weit. Das Reisen war so einfach, und dennoch erschien es wie ein großes Abenteuer.

      Doch vom Backpacking in Mittelamerika bis zu einem Leben auf den Straßen von Neuseeland war es noch ein weiter Weg. Als wir nach einer Woche die Grenze nach Guatemala bei Cara Sucia überquerten, gab mir das Schicksal einen entscheidenden Stoß.

      Cara Sucia bedeutet auf Deutsch »dreckiges Gesicht« und beschreibt den Charme des Städtchens zur Genüge. Mit Chicken-Bussen fuhren wir weiter bis Antigua, der ehemaligen Hauptstadt des Landes. Sie liegt vor den Toren von Guatemala-City und wird eingerahmt von mehreren, teils aktiven Vulkanen. Das Kolonialstädtchen zählt mit seinen Pflasterstraßen, seinen halb zerfallenen Kathedralen und seinen pastellfarbenen und knallbunten Hauswänden zum UNESCO-Weltkulturerbe. Es ist der Go-to-Place für alle Reisenden in Guatemala. Es gibt Hostels an jeder Ecke, amerikanische Fast-Food-Ketten und jede Menge buchbare Action. Ich hatte gemischte Gefühle, was diese Stadt betraf. Auf der einen Seite war es verlockend, mal wieder für ein paar Tage einen etwas westlicheren Standard zu genießen. Auf der anderen Seite drängte mich mein Ehrgeiz dazu, auf jeglichen Komfort zu verzichten. Eine geführte Tour im Geländewagen zu einem Vulkan würde einen Rückschritt bedeuten im Vergleich zu einer spontanen Wanderung, die wir in den Bergen El Salvadors unternommen hatten. Und die Matratze des Gästezimmers hatte unbequem zu sein, denn nur wenn man die Knochen im Leib spürt, ist man auf derselben Ebene wie die arme, hart arbeitende Landbevölkerung. Eigentlich albern, dachte ich, als ich im Hostel meinen Rucksack auf die untere Matratze eines Etagenbettes warf. Sie sah ziemlich bequem aus. Das gefiel mir nicht. Natürlich war es albern, aber ich wollte immer nach vorn, niemals einen Schritt zurückgehen. Dieses Bett gab mir das Gefühl eines Fünf-Sterne-Urlaubs auf den Malediven. Ich grummelte missmutig vor mich hin.

      »Hey!«, sagte plötzlich eine Stimme über mir. Ich hatte den jungen Mann, der im oberen Bett schlief, geweckt. Hatte ich etwa laut mit mir selbst gesprochen? Hatte ich mich schon so weit in meiner verrückten Welt verloren, dass ich nicht mal mehr bemerkte, wenn ich redete?

      »Ich kenne dich doch«, sagte der Mann und musterte mich nachdenklich. Stimmt, jetzt fiel es mir auch ein. Er hatte im Flieger nach Panama vor mir gesessen. Wir hatten nur wenige Worte miteinander gewechselt, eigentlich kein Grund, gleich ein Wiedersehensfest zu feiern. Aber ein Zufall war es schon.

      »Ich bin Steffen«, sagte er.

      »Du bist also von Panama nach Guatemala weitergeflogen?«, fragte ich. »Aber das ist doch schon über eine Woche her! Gefällt dir Antigua so gut, dass du länger hierbleibst?« Ein langweiliger Möchtegernabenteurer, schloss ich in Gedanken. Einer von denen, die einen Sprachkurs machten, sich einer geführten Tour auf den Vulkan anschlossen und hinterher zu Hause so taten, als hätten sie den Buschmännern das Feuer gebracht.

      »Nee«, sagte Steffen. »Aber ich warte leider immer noch auf mein Gepäck. Die Idioten haben es von Panama nach Mexiko geschickt.«

      »Das ist mir auch passiert! Aber meins war dann nach drei Tagen da. Hast du denn schon irgendeine Nachricht, wo es sein könnte?«

      »Oh, es ist da, das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die Hälfte meiner Ausrüstung aus