Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten am 4. August war in erster Linie durch die Stimmung der sozialistischen Arbeitermassen beeinflußt, die nicht dulden wollten, daß die Truppen des Zaren über Deutschland herfielen. Aber darüber hinaus befand sich die sozialdemokratische Fraktion bei dem Bekenntnis zur Landesverteidigung durchaus im Einklang mit der marxistischen Lehre1. Marx und Engels waren zwar der Ansicht, daß die sozialistische Gesellschaft in einer späteren Zukunft den Krieg beseitigen werde. Aber in der Periode des Kapitalismus hielten sie den Krieg für ein Mittel der Politik, mit dem der Staatsmann – auch der Staatsmann des Proletariats – einfach rechnen muß. Ebenso gibt der Marxismus jeder Nation das Recht auf unabhängige Existenz und damit das Recht der Selbstverteidigung. Darüber hinaus beurteilt der Marxismus jeden Krieg nach den Interessen des internationalen Proletariats, und so sollen die sozialistischen Arbeiter aller Länder zu jedem Krieg eine einheitliche Auffassung vertreten.
Ein klassisches Beispiel für die marxistische Stellung zum Kriege bietet die Haltung von Marx und Engels zum Kriege 1870/71. Beim Kriegsausbruch waren die beiden Häupter des internationalen Sozialismus der Meinung, daß die Niederlage des reaktionären Bonapartismus und die Einigung Deutschlands auch den proletarischen Interessen diene. Nach Sedan änderte sich die Lage: Marx und Engels empfahlen den französischen Arbeitern, mit allen Kräften die neue Republik zu verteidigen, und den deutschen Arbeitern, sich für einen maßvollen Frieden einzusetzen, vor allem gegen eine Annexion Elsaß-Lothringens zu protestieren. Denn die Annexion geschehe gegen den Willen der Elsässer und Lothringer, und sie treibe zwangsläufig Frankreich in die Arme des Zarismus.
In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sah Engels den Krieg Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland kommen, und er hatte über ihn folgendes Urteil; Deutschland sei nicht nur das Land der Hohenzollern, sondern auch der Sitz der stärksten und am besten organisierten sozialistischen Arbeiterschaft der Welt. Deshalb sei ein Angriff auf Deutschland zugleich ein Angriff auf die Existenz der sozialistischen deutschen Arbeiterklasse. Darum erfordere das Interesse der sozialistischen Internationale den Abwehrsieg Deutschlands. Freilich habe die deutsche Arbeiterschaft die Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Krieg zur Revolutionierung Rußlands führe und daß Frankreich durch ein siegreiches Deutschland nicht vergewaltigt werde. Der Krieg würde auch innerpolitisch die Macht der deutschen Arbeiter außerordentlich steigern und bei gutem Ausgang den Sieg des Sozialismus in Deutschland vorbereiten. Friedrich Engels wünschte also für den europäischen Krieg, daß die Arbeiterschaft der großen Länder, jede an ihrem Platz, für die gemeinsame Aufgabe wirke: die deutschen Arbeiter für den deutschen Sieg, aber mit ihren eigenen Kriegszielen, nicht mit den Kriegszielen des deutschen Großkapitals, die russischen Arbeiter für die russische Revolution, und die französischen Arbeiter für einen möglichst schnellen Frieden mit Deutschland ohne gegenseitige Vergewaltigung.
Von den Gedanken der Altmeister des Sozialismus war in der deutschen Arbeiterschaft so viel lebendig, daß in einem Kriege Deutschlands mit dem russischen Zaren und seinen Verbündeten die deutschen Arbeiter das Recht und die Pflicht der Landesverteidigung hätten. Diese Tradition von Marx und Engels wirkte in der Abstimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 4. August entscheidend nach. Aber der Burgfrieden mit der kaiserlichen Regierung folgte aus der Lehre von Marx und Engels nicht. Selbst die bürgerlichen Parteien Deutschlands hätten sich mit guten Gründen gegen den Burgfrieden wehren können.
Wenn ein großes Volk im Kriege um seine Existenz kämpft, muß es alle Kräfte entfesseln, die in seinem Innern schlummern. Mit allen Mitteln muß der Geist und Wille gerade der ärmeren Volksmassen geweckt werden. Das ist aber nicht möglich unter der Losung »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, sondern nur unter höchster freier Selbsttätigkeit der Massen. Das berühmteste Beispiel eines solchen Volkskrieges ist die Verteidigung des revolutionären Frankreichs 1793/94 gegen das monarchistische Europa. Ebensowenig hätten die Bolschewiki 1917/20 ohne die ungeheuere Willenssteigerung der russischen Arbeiter und Bauern siegen können. Auch auf die englische Revolution von 1688 folgte der lange, schwere Krieg mit Ludwig XIV., in dem England nur siegen konnte, weil das Unterhaus alle Kräfte in der Nation lebendig machte. Die Geschichte lehrt, daß ein Volkskrieg nicht unter aristokratischem Kommando mit Zensur und Belagerungszustand zu führen ist, sondern nur durch die selbständige Aktivität der Massen.
Ferner: Ist es erforderlich, daß in einem großen Kriege die Parteigegensätze schweigen und daß jede Kritik an der zufällig vorhandenen Regierung verstummt? Auch diese Frage ist nach der geschichtlichen Erfahrung zu verneinen. Das englische Unterhaus dachte von 1689 bis 1697 gar nicht daran, mit den konservativen »Jakobiten« Burgfrieden zu schließen, sondern es schickte sie auf den Galgen. Die Bergpartei hat 1792 bis 1794 mitten im Kriege die feudale wie die Bourgeois-Aristokratie Frankreichs niedergeworfen. Die Landesverteidigung hat wahrlich darunter nicht gelitten. Aus der rücksichtslosen Verschärfung des Klassenkampfes schöpften die Bolschewiki die Kraft, die Entente abzuwehren. Mustafa Kemal hat während des Befreiungskrieges der modernen Türkei die Alttürken mit Feuer und Schwert ausgerottet. Um die Engländer und Franzosen aus dem Lande werfen zu können, mußte Kemal zunächst den Sultan in Konstantinopel stürzen.
In einem großen Volkskrieg wird stets die entschlossenste Partei oder Klasse, die Richtung, die am tiefsten in den Massen verwurzelt ist, die Macht an sich reißen und aus der Überwindung der innerpolitischen Gegner die Kraft zum Siege über den äußeren Feind schöpfen. Die Entwicklung in England und Frankreich während des Weltkrieges lehrt das gleiche. In beiden Ländern war die bürgerliche Demokratie fest gegründet, Arbeiter und Bauern stellten sich unter die Führung des Bürgertums, das so die Gesamtkraft der Nation mobilisierte. In beiden Ländern hat man während des Krieges rücksichtslos die politische und militärische Führung kritisiert. Ungeeignete Minister und Feldmarschälle wurden durch die öffentliche Kritik beseitigt. In England wie in Frankreich war die Arbeiterschaft politisch zu schwach, um die Macht zu übernehmen. Aber als die Schwierigkeiten sich im Laufe des Krieges häuften, kam in England Lloyd George zur Macht und in Frankreich Clemenceau. Beide verkörperten den äußersten linken Flügel des Bürgertums mit der stärksten Verbindung zu den ärmeren Volksmassen. Lloyd George hatte vor dem Kriege die Macht des aristokratischen Oberhauses gebrochen und im Bunde mit den englischen Arbeitern das berühmte Budget aufgestellt, das die Reichen aufs schärfste besteuerte. Clemenceau blickte auf vierzig Kampfjahre in den Reihen der radikalen Bewegung von Gambetta bis zur Dreyfus-Affäre zurück. So gewannen die beiden Männer die Autorität, mit der sie ihre Völker im Kriege führten. Die deutschen Lloyd George und Clemenceau waren Michaelis und Hertling. Bei beispielloser Aufopferung und Ausdauer mußte doch das deutsche Volk im Weltkriege für die Mängel seiner geschichtlichen Entwicklung büßen.
Am 4. August hätten die Parteien im Reichstag sich sagen können, daß die Koalition Englands, Frankreichs, Rußlands und Japans gegen Deutschland den völligen Bankrott der Außenpolitik Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs darstellte. Mit der Kriegserklärung hört die Politik nicht auf, sondern das Schicksal Deutschlands hing mindestens ebenso wie von den Waffen von der politischen Geschicklichkeit seiner Regierung ab. Wenn es im Augenblick nicht zweckmäßig war, Bethmann-Hollweg oder gar den Kaiser abzusetzen, hätte man nicht mindestens die öffentliche Kritik an der Regierung sichern müssen? Hätte man nicht die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit der politischen Parteien verteidigen müssen? Hätte nicht zumindest der Reichstag über den 4. August hinaus zusammenbleiben müssen, um bei den Krisen des Krieges, die jeden Augenblick eintreten konnten, auf dem Posten zu sein? Mußten die Parteien sich nicht darüber Gedanken machen, was Deutschland in diesem Kriege bezweckte? Denn mit allgemeinen Schlagworten wie »Verteidigung« und »Sicherung« läßt sich keine Politik machen. Aber die Parteien, von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten, haben solche Fragen am 4. August nicht gestellt. Sie bewilligten die Kredite und ließen sich bis auf weiteres nach Hause schicken. Die Regierung behielt unangefochten die diktatorische Gewalt, alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zu entscheiden. Mit Hilfe von Zensur und Belagerungszustand konnte die Regierung jede politische Meinungsäußerung im Volke unterdrücken. Das war der deutsche Burgfrieden von 1914. Wie wurde er möglich?
Es entsprach den Gedankengängen der militärischen Aristokratie Preußens, daß im Kriege der König unbedingt freie Hand haben mußte. So deckte sich der Burgfrieden zunächst mit der konservativen Anschauung.