Mikhal Dekel

Die Kinder von Teheran


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Und ich fragte mich auch, weshalb ausgerechnet seine Befragung – im Gegensatz zu den Interviews der meisten anderen „Kinder von Teheran“ – auf Jiddisch geführt worden war. (War das ein kleiner Akt der Rebellion vonseiten Hannans, um zu zeigen, dass er jetzt in einem anderen Land war, andere Loyalitäten galten? Oder war es ganz einfach Flinckers Sprache der Wahl gewesen?) Jedenfalls war ich aber ganz begeistert, und immer wieder auch überrascht, als ich das jiddische Gesprächsprotokoll zu lesen begann. Der Text war gespickt mit geistreichen Bemerkungen und Redensarten – etwa es hat geholfen vi a toydten bankes („es war so hilfreich wie einen Toten zu schröpfen“, sprich: es hat überhaupt nichts gebracht) –, die so ganz anders waren als der lapidare, ja lakonische Stil, den mein Vater im Hebräischen gepflegt hatte.

      PROTOKOLL NUMMER 26

       GINSACH KIDDUSCH HASCHEM

       ZEUGEN-AUSSAGE VON CHANANJA TEITEL, 15 JAHRE ALT,

       GEBOREN IN OSTRÓW MAZ., SOHN VON ZINDEL TEITEL, EIGENTÜMER DER

       BIER-BRAUEREI IN OSTRÓW MAZ.

      Nach Israel gekommen 1943 aus Russland über Teheran

      Erster Absatz:

      Am sechsten Tag nach Kriegsausbruch, noch bevor die Deutschen zu uns nach Ostrów Mazowiecka hineingekommen sind, sind wir – mein Tate, Mame, ich und ein kleines Schwesterl – aus der Stadt geflohen. Da war die Panik schon groß. Die Wege waren voll mit Flüchtlingen. Mein Tate, Zindel Teitel, ist in der Stadt ein Nagid gewesen [ein wichtiger Mann]. Er hat dort eine Brauerei gehabt und war mit allen Juden und Gojim bekannt und hatte deshalb mehr noch zu fürchten als andere. Wir sind geflohen, wohin es nur ging.

      Hannans Vater und sein Onkel Icok lenkten die beiden Lastwagen in Richtung des rund hundert Kilometer östlich von Ostrów gelegenen Białystok. Auf den Landstraßen waren bereits Pulks von Flüchtlingen unterwegs, die von panischen Soldaten der polnischen Armee immer wieder an den Fahrbahnrand gescheucht wurden, damit polnische Panzer und andere Armeefahrzeuge vorbeifahren konnten. Dreizehn Tage zuvor hatte ein geheimes Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) Polen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt – „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“, wie es verhüllend hieß. Die deutsche 3. Armee, die am 1. September von Ostpreußen aus in Polen eingefallen war, war seitdem in nördlicher Richtung auf Masuren vorgerückt, und die Mordkommandos der ihnen zugeteilten „Einsatzgruppe“ – paramilitärische Verbände unter Leitung der SS – hatten bereits begonnen, entlang des Weges „reichs- und deutschfeindliche Elemente“ – Zivilisten, Polen und Juden – in Massen zu erschießen.

      Die Teitels steckten fest. Entlang der Hauptverkehrsstraße von Warschau nach Białystok hatten die Wojska Lądowe, die polnischen Landstreitkräfte, begonnen, Ostrów und andere Städte im Osten des Landes zu umringen und abzusperren, während die Piloten der deutschen Luftwaffe ihre Bomben sowohl auf sie als auch auf die Flüchtlingskolonnen abwarfen, wobei unzählige Menschen getötet und verwundet wurden. Auf der voranbrandenden Flüchtlingswelle, die in Gestalt Hunderter und Tausender einzelner Leiber nach Osten strömte, kräuselte sich die Panik. Würde sie jetzt schon brechen, nur wenige Tage nach dem Ausbruch des Krieges? Die Aussagen anderer Kinder waren detaillierter als die eher knappe Darstellung Hannans:

      „Tag für Tag bombardierten [die Deutschen] unsere Stadt, also luden wir unsere Sachen auf ein Fuhrwerk und fuhren los, aber gleich vor der Stadt beschlagnahmten [polnische Soldaten] unser Fuhrwerk für das Militär, und wir mussten zu Fuß gehen, die Bündel auf dem Rücken. Die Soldaten vertrieben uns von der Landstraße, sie behaupteten, unsere Bündel dienten den deutschen Flugzeugen als Zeichen. Um ein Uhr nachts kamen wir endlich in Bochnia an. Am Morgen waren wieder Flugzeuge im Anflug. Sie kamen tief herunter, warfen Brandbomben und feuerten aus Maschinengewehren. Wir versteckten uns in einem eingestürzten Haus. Als es ruhiger geworden war, kaufte mein Vater ein Pferd und einen Wagen, und wir fuhren weiter, aber wir wussten nicht wohin, denn wo wir auch ankamen, gleich waren wieder Deutsche da, als würden sie uns verfolgen.“2

      Von Anfang an schienen mir die „Palästina-Protokolle“ eine ganz andere Geschichte des Holocaust zu erzählen, als man sie gemeinhin kennt: nicht eine Geschichte des Überlebens hinter Stacheldraht, im Bannkreis jener so perversen wie unerbittlichen Logik der Vernichtungslager, sondern stattdessen die Geschichte von Menschen, die aus der vermeintlichen Sicherheit ihres Zuhauses gleichsam hinausgespien wurden in die ungeheure Weite einer verelendeten und zugleich erbarmungslos gefährlichen Welt. Eine Geschichte, die mit ihrer Flucht begann.

      „Am Freitag, dem 1. September, brach eine Panik aus. Polen, Juden, jeder, der konnte, flüchtete in Richtung Lwów. Vater wollte nicht fliehen, wie soll man sich auch mit sechs Kindern und ohne Geld auf die Wanderschaft machen? … Aber als es hieß, die Deutschen stehen schon in Podhajce und der letzte Zug geht ab, änderte Vater seinen Entschluss. Im Zug war ein schreckliches Gedrängel, man konnte weder sitzen noch stehen, man lief über Leute hinweg, trampelte auf Kindern herum. Auf jeder Station kamen neue Passagiere dazu, und es gab Schlachten zwischen den Hinzugekommenen und denen, die vorher da waren. Immer wenn Flugzeuge auftauchten, hielt der Zug an, und die Leute trampelten sich gegenseitig nieder und sprangen hinaus, um in den Gräben in Deckung zu gehen. Wenn ein Angriff vorbei war, drängte man sich wieder in den Zug, man verlor seine Familie und seine Sachen. Die ganze Zeit hörte man das Geschrei von Bestohlenen, das Weinen von Kindern und Rufe. Auf diese Weise fuhren wir zwei Tage und zwei Nächte nach Lwów.“3

      In manchen Punkten wichen die Berichte der Kinder voneinander ab, aber selbst in den Details stimmten sie meist überein. Bei allen war die Erinnerung an die ersten Tage ihrer Flucht viel lebhafter als alles, was noch folgen sollte.

      *

      Als ich Regina befragte, war ihr eine Episode ganz besonders im Gedächtnis geblieben: wie Hannan in Małkinia Górna, wo die Familie die erste Nacht ihrer Flucht verbrachte, einen deutschen Bombenangriff verschlief, durch den das Dach der geschlossenen Terrasse einstürzte, auf der sie Zuflucht gesucht hatten. Es war eine typische Anekdote, denn etliche andere ehemalige Flüchtlinge, die ich interviewt habe, erzählten mir ganz ähnliche Geschichten – von Momenten einer befreienden Komik oder in denen sie noch einmal Glück gehabt hatten; von schicksalhaften Entscheidungen, die zum Guten führten; von Augenblicken, in denen ihre Eltern einen Entschluss fassten (selbst wenn es ein schlechter Entschluss war) oder die Initiative ergriffen, anstatt sich nur umherstoßen zu lassen. Ich konnte mir vorstellen, dass sie schreckliche Angst gehabt haben mussten. Vor dem Krieg hatte Hannan nur eine einzige Nacht seines Lebens außerhalb von Ostrów verbracht: als ihm in Warschau die Mandeln herausoperiert worden waren. Regina hatte in ihrem Leben kaum je das Brauereigelände verlassen. Und jetzt wurden sie mit einem Mal in die weite Welt hinausgetrieben auf ihrer hastigen Flucht vor der anrückenden Wehrmacht.

      Während der gut zwei Wochen, die zwischen der Nazi-Invasion am 1. September 1939 und der sowjetischen Invasion am 17. September verstrichen, drangen deutsche Soldaten auch in Städte und Dörfer ein, die nach den Bestimmungen des Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion fallen sollten. Sie erniedrigten die Einwohner und plünderten ihren Besitz, verstümmelten manche und töteten andere unter dem Gebrüll von Parolen wie „Marsch zu euren roten Brüdern!“ – nur um sich dann, einige Tage später, wieder zurückzuziehen. In Ostrów, berichtete ein Kind in seinem „Protokoll“, verhafteten deutsche Soldaten vollkommen willkürlich seinen achtzehnjährigen Bruder, den sie zusammen mit anderen Gefangenen in eine nahe gelegene Kaserne der polnischen Armee brachten, wo sie drei Tage und drei Nächte lang ohne Wasser oder Nahrung reglos auf dem Hof im Schlamm knien mussten. Wer sich bewegte, wurde erschossen. Am vierten Tag erhielten die Überlebenden den Befehl, ein Stück Landstraße zu pflastern. Erst am fünften Tag gab man ihnen ein wenig Wasser und Brot und ließ sie dann gehen.4 In anderen Zeugenaussagen berichten Kinder, wie religiösen Juden die Bärte „mit ganzen Hautstücken“ ausgerissen wurden; alte Leute gezwungen wurden, stundenlang mit erhobenen Händen vor ihren Häusern zu stehen; die Heiligen Schriften aus den Synagogen geworfen und in den Dreck getreten wurden; wie Menschen gezwungen wurden, andere – darunter ihre engsten Angehörigen – mit Benzin zu übergießen, damit sie lebendig verbrannt werden konnten.5

      Ich wusste nicht, welche Grausamkeiten mein Vater von den