alles irgendwie Nützliche – war ebenfalls weggeschafft worden. Die Warteschlangen vor den größtenteils leeren Geschäften, deren Erwähnung in keinem Flüchtlingsbericht aus jener Zeit fehlen darf, zogen sich um ganze Häuserblocks. Insbesondere vor den Lebensmittelgeschäften kam es unter den Wartenden immer wieder zu blutigen, ja sogar tödlichen Auseinandersetzungen. Dem entging Zindel, indem er, wann immer es möglich war, seine Einkäufe auf dem Schwarzmarkt erledigte. „Eine Arbeit, von der man hätte leben können, hat es in Kowel nicht gegeben“, berichtete Hannan später.
Und dabei ist noch jeden Tag die Teuerung gewachsen. … Vor den Geschäften hat man gestanden den ganzen Tag in den „Ogonken“ [von poln. ogonek, „Warteschlange“] und ganz oft ist man wieder weg, wie man gekommen ist, mit leeren Händen. Die Verbitterung, unter den Juden wie unter den Polen, ist gestiegen. Insgeheim hat man schon leis gejammert, aber aus Bange kein lautes Wort gesagt. … Das bissel Geld, das wir von daheim mitgebracht hatten und von dem wir die ganze Zeit gelebt hatten, hat angefangen auszugehen, und Aussicht auf Besserung war auch keine.
Die Fragen, die Mitarbeiter des polnischen „Informationszentrums Ost“ an Hannan und die anderen aus Polen stammenden Flüchtlinge in Jerusalem, im Iran und anderswo richteten, um deren Aussagen zu sammeln, bezogen sich fast ausschließlich auf den entbehrungsreichen Alltag unter sowjetischer Besatzung. Wie ich später herausfinden sollte, war dies nicht ohne Grund so: Es sollte eine belastende Dokumentation geschaffen werden, mit der die sowjetischen Vergehen an polnischen Bürgern zweifelsfrei belegt werden konnten, um die Errichtung eines bolschewistischen polnischen Staates nach dem Krieg zu verhindern. Doch gingen die Zeugenaussagen über ihren ursprünglichen Zweck hinaus. Sie erlaubten Einblicke in die Lebens- und Gefühlswelt Einzelner („Mein Tate … ist herumgelaufen wie depressiv“) und ließen sogar das spannungsreiche Miteinander von Juden und Polen erkennen, das die Mitarbeiter des „Informationszentrums Ost“ ja gerade im bestmöglichen Licht präsentieren wollten. Daher scheint klar, dass die Zeugenaussagen nicht – oder zumindest nicht tiefgreifend – redigiert oder gar zensiert wurden.
Aus dem Protokoll von der Befragung meines Vaters geht die unaufhaltsame Zerrüttung seines eigenen Vaters hervor. Zindel war letztlich nicht in der Lage, sich an die neue Situation anzupassen, und sein Herkunftsmilieu, seine Fertigkeiten und seine Weltanschauung standen im direkten Gegensatz zu der Art von Durchtriebenheit und Raffinesse, die in der gegenwärtigen Lage von Nutzen gewesen wären. Er hatte weder Beziehungen zu den Kommunisten noch zu den Bundisten – den Anhängern der jüdischen Arbeiterbewegung –, ja er empfand vielmehr eine tiefe Abneigung gegen beide. Seine gute Kleidung und seine feinen Manieren waren nun eher ein Nachteil für ihn, brandmarkten sie ihn doch als „Bourgeois“ und damit als ein potenzielles Opfer für die kommunistischen Milizen in der Stadt. „Mein Tate, der das Spekulieren nicht gewohnt war und hat auch nicht können müßiggehen, ist herumgelaufen wie depressiv [a dershlagener]“, erinnerte sich Hannan. „Immer hat er gewollt, dass wir still sind, und ist auch selbst mit keinem Wort herausgerückt.“ „Unsere Mutter war diejenige, die von da an ‚funktionierte‘“, berichtete mir meine Tante Regina, und doch kommt Ruchela, die fließend Russisch sprach, im Bericht meines Vaters kaum vor.
Mitte November 1939 erhielt Zindel einen aufmunternden Brief „von der anderen Seite des Flusses Bug, wo die Deutschen waren und wo mein Tate sein ganzes Vermögen gehabt hat“, wie es in Hannans Bericht heißt. Ein Onkel aus der Gegend von Sokołów Podlaski, einer Kleinstadt südöstlich von Ostrów, berichtete den Verwandten in Kowel, dass „die [Hohen] Feiertage bei ihm ohne alle Schwierigkeiten verlaufen waren“ – selbst unter deutscher Besatzung im neu errichteten „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“. Daraufhin erwog Zindel, mit seiner Familie nach Ostrów zurückzukehren. Also gingen die Teitels zunächst zurück nach Siemiatycze, und als dort Plakate auftauchten, mit denen alle Rückkehrwilligen aufgerufen wurden, sich für ihre Wiedereinreise in das Generalgouvernement bei einer örtlichen Regierungsstelle registrieren zu lassen, wurden die Pläne der Familie für eine Heimkehr immer konkreter.
„Vielleicht wird es uns irgendwie gelingen, über die Grenze zu kommen“ und zurück in das deutsch besetzte Polen, so schilderte später Hannan seinen damaligen Blick in die Zukunft.
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Von Siemiatycze fuhren Salar und ich weiter nach Białystok, auf der Straße, der mein Großvater dann doch nicht gefolgt war, anders als sein Bruder Icok mit Familie, die gemeinsam mit Zindel und den Seinen aus Ostrów geflohen waren. In dem hübschen, verschlafenen, aber auch irgendwie nichtssagenden Städtchen Zambrów, das Salar und ich unterwegs passierten, trennten sich die beiden Familien hastig und schlugen – jede in ihrem eigenen Lastwagen – getrennte Wege ein. Zindel fuhr nach Süden in Richtung Siemiatycze, Icok nordwärts nach Białystok. Die beiden Brüder sollten sich nie mehr wiedersehen.
Eigentlich war es für die Ostrówer Teitels nur logisch, sich bei Kriegsausbruch in Richtung Białystok zu orientieren. Schließlich war es nicht nur die größte Stadt im polnischen Nordosten, noch dazu mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit (bei einer Volkszählung im Jahr 1897 hatten sich von 66 000 Einwohnern ganze 41 900 als Juden bezeichnet, 1939 gab es etwa 51 000 Juden in der Stadt); sondern zur jüdischen Oberschicht von Białystok, ebenso wohlhabenden wie selbstbewussten Händlern und Kaufleuten, gehörten auch etliche Kunden der Brauerei Teitel, die in der Stadt eine Niederlassung betrieb. Białystok war ein Zentrum des Zionismus und des jüdischen Lebens überhaupt: Es gab die Scholem-Alejchem-Bibliothek mit ihren mehr als 20 000 Bänden in jiddischer Sprache, eine wunderschöne Chorsynagoge und nicht zuletzt das Hebräische Gymnasium, an dessen Gebäude Salar und ich auf unserem Stadtrundgang vorbeikamen – heute residiert dort ein Versicherungsunternehmen. Eine wirkliche Schönheit war diese Stadt, eine Perle des alten Mitteleuropa, deren Aura uns sofort in ihren Bann geschlagen hatte, als wir am frühen Nachmittag in das Zentrum hineingefahren waren: Auf den eleganten Bauten im neoklassizistischen Stil lag goldenes Sonnenlicht, die Straßen und die Cafés waren voller Menschen.
Unsere ortskundige Führerin in Białystok, Lucia (Lucy) Gold, eine zierliche, blonde Kettenraucherin, mit der wir uns am Hotel Branicki treffen wollten, war eine Vertreterin des jüdischen Kulturvereins in der Stadt. Tatsächlich war sie gewissermaßen dieser Kulturverein, wie sie uns selbst sagte, denn schließlich kämpfe sie auf eigene Faust dafür, das großartige jüdische Erbe von Białystok zu erhalten und vor dem Vergessen zu bewahren. Wie unser Begleiter in Ostrów, Krzysztof „Kris“ Malczewski, und wie beinahe alle anderen Jüdinnen und Juden, die wir in Polen kennenlernten, hatte zwar Lucy nur ein jüdisches Elternteil, gehörte damit aber dennoch zu der verschwindend kleinen Gruppe jüdischer Polen, die nicht nur den Zweiten Weltkrieg in Polen überlebt hatten (oder dorthin zurückgekehrt waren), sondern auch die antisemitischen Wellen der späten 1950er- und der 1960er-Jahre. Anders als Krzysztof jedoch gab sich Lucy auch offen und öffentlich als Jüdin zu erkennen – vielleicht lag es ja daran, dass sie alles in allem weniger aufgekratzt, vorsichtiger und zurückhaltender, ja sogar ein wenig depressiv wirkte; an der Tür zu ihrem Büro, erzählte sie uns bei unserem Stadtrundgang mit gesenktem Blick und einem müden Lächeln, musste sie regelmäßig Hakenkreuz-Schmierereien entfernen. Am Tag unserer Ankunft ging in der Stadt gerade ein jüdisches Kulturfestival zu Ende, das Lucy organisiert hatte, mit jüdischem Essen, jüdischen Büchern, jüdischer Musik. Den großen Abschluss bildete das überaus gut besuchte Konzert einer Punkband aus Israel. Als die über und über tätowierten Musiker anschließend zu Lucy kamen, um sich von ihr zu verabschieden, trat ein sanftes Leuchten in ihre Augen.
Bei unserem Gang durch Białystok wurde bald klar, dass hinter jeder lichten Ecke, hinter jeder sonnenüberströmten Fassade an den elegant-großzügig angelegten Boulevards der Stadt eine ebenso reiche wie düstere Geschichte schlummerte. Das verführerische Kaffeehaus Wiener Art am Kościuszko-Platz – dessen Kaiserschmarrn und Apfelstrudel uns schon vor dem Schaufenster das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, bevor wir sie uns dann drinnen schmecken ließen – befand sich an genau der Stelle, wo deutsche Einsatzgruppen weniger als zwei Jahre nach Großonkel Icoks Eintreffen in der Stadt Hunderte von Juden erschossen hatten. Aber an dem ganz normalen, ein wenig verträumten Nachmittag im Juni 2012, als wir dort einkehrten, erinnerte nichts an das schreckliche Verbrechen, das die Nazis hier verübt hatten – und nichts erinnerte an die Flüchtlingskrise vom Oktober 1939, als Icok Teitel