Dietrich Schulze-Marmeling

Der König und sein Spiel


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darunter einige tausend Niederländer.

      Dem KNVB war das Spiel ein Dorn im Auge, und er drohte mit einem Verbot des Spiels. Im Vorstand wollte nur Schatzmeister Lo Brunt das Amateurstatut auf den Misthaufen der Geschichte werfen. Brunt hatte eine prächtige Idee: Timmermans und Appel sollten um die Unterstützung von Prinz Bernhard ersuchen, der im Katastrophenfonds den Vorsitz führte und folglich die Benefizaktion begrüßen musste. Nach einer Intervention des Prinzen gab der KNVB seine Verbotsbestrebungen tatsächlich auf. Stattdessen unternahm man nun alles, um den Eindruck eines offiziellen Länderspiels zu vermeiden. Das Abspielen der Nationalhymne wurde ebenso verhindert wie ein Auflaufen in Oranje-Hemden. Statt „Het Wilhelmus“ wurde vor dem Anpfiff die alte Nationalhymne „Wien Neerlands Bloed“ gespielt, statt Orange trug man die Farben der niederländischen Flagge – die Trikots rot, die Hosen weiß und die Stutzen blau.

      Im Tor der Profis stand Frans de Munk vom 1. FC Köln. In Deutschland genoss der Spitzenspieler immerhin bereits den Status eines Vertragsspielers, der nicht mehr Amateur, aber auch noch kein richtiger Profi war. Leistungsträgern wurde allerdings häufig mehr gezahlt als offiziell gestattet. Der Rest der Akteure, die im Prinzenpark aufliefen, verdiente sein Geld in Frankreich: In Nantes (Vreeken, van Geen), Lille (van der Hart), Bordeaux (de Kubber, de Harder), Reims (Appel), Rouen (de Vroet), Paris (Schaap), St. Etienne (Rijvers) und Nimes (Timmermans). Es fehlte Faas Wilkes, dem sein Arbeitgeber AC Turin keine Freistellung erteilt hatte.

      Die Auswahl niederländischer Profis schlug die Franzosen um Raymond Kopa und Roger Marche mit 2:1. In der 34. Minute hatte Saunier Les Bleus aus abseitsverdächtiger Position in Führung geschossen. Bertuus de Harder glich in der 58. Minute aus. In der 81. Minute gelang Bram Appel auch noch der Siegtreffer. Cor van der Hart nach dem Abpfiff: „Wir haben die französische Nationalmannschaft besiegt, das ist fantastisch. Aber wir haben auch bewiesen, wozu wir Berufsfußballer- in der Lage sind. Wird unser Amateurverband die Bedeutung dieses großartigen Erfolges begreifen?“

      Obwohl das als „Hollandais Pros“ angekündigte Sammelsurium noch niemals zusammengespielt hatte, bewies es doch eindrucksvoll, was der offiziellen Nationalelf durch den Ausschluss der Profis entging. „L’Équipe“ machte dabei eine interessante Beobachtung, die bereits auf die weitere Entwicklung des niederländischen Fußballs verwies: „Die Franzosen streichelten den Ball. Die Holländer spielten ihn.“

      Auch Abe Lenstra, der prognostiziert hatte, die Franzosen würden „ungefähr vier zu null“ gewinnen, war tief beeindruckt. Die niederländischen Profis hätten sich nach dem Verlassen der Heimat taktisch, technisch und konditionell enorm verbessert. Als man ihn fragte, ob er gerne mitgespielt hätte, antwortete das Idol der Amateurideologen: „Und ob ich gewollt hätte! Endlich Spieler, von denen man gute Zuspiele hätte kriegen können.“

      Die niederländische Zeitschrift „Sportief“ hatte bereits zwei Monate vor dem Spiel die KNVB-Politik heftig kritisiert: „Wenn die Pariser Oper einem musikalisch begabten jungen Holländer einen Vertrag als Violinist anbietet, betrachten wir das als eine Ehre. Bei Fußballspielern sieht das ganz anders aus. (…) Die holländischen Profis in Frankreich werden als minderwertige Wesen angesehen, weil sie ihr Brot mit Fußball verdienen (…), obwohl sie doch durch ihre Fähigkeit wahrhaftig Talent nachweisen.“

      Die Begegnung von Paris bescherte dem niederländischen Fußball seinen eigenen Dammbruch. Schon unmittelbar nach dem Spiel verkündete KNVB-Vorständler Lo Brunt, dass der Profifußball nun auch in den Niederlanden nicht mehr aufzuhalten sei. 1954 wurde der Nederlandse Beroepsvoetbal Bond (NBVB) gegründet, der eine eigene Profiliga aus der Taufe hob, in der sich zehn Profivereine organisierten. Viele der niederländischen Auslandsprofis kehrten nun in die Heimat zurück, um sich einem dieser Klubs anzuschließen. Am 14. August 1954 wurde in Alkmaar erstmals offiziell professionell gespielt, als sich vor 13.000 Zuschauern Alkmaar’ 54 und der Sportclub Venlo gegenüberstanden. Die Spiele der Profiliga mobilisierten deutlich mehr Zuschauer als die höchsten Amateurligen des KNVB. Nach nur elf Spieltagen vollzogen NBVB und KNVB eine Fusion. Die Spiele der beiden Ligen wurde abgebrochen und mit der Kampioenscompetie eine neue nationale Liga gegründet, aus der 1956 die Eredivisie und erste niederländische Profiliga unter Aufsicht des KNVB hervorging.

      Ajax bestritt sein erstes Profispiel am 28. November 1954 und kassierte dabei im vereinseigenen Stadion De Meer gegen VVV Venlo eine 2:3-Niederlage. Die Ajax-Spieler erhielten nun für einen Sieg 30 Gulden, bei einem Remis waren es 20, bei einer Niederlage immerhin noch zehn. Allerdings gingen alle Ajax-Akteure unverändert neben dem Fußball einer Vollzeitbeschäftigung nach.

      In die Nationalmannschaft waren die Profis bereits am 13. März 1956 zurückgekehrt, und am 14. März 1956 besiegte die Elftal Weltmeister Deutschland vor 65.000 Zuschauern im Düsseldorfer Rheinstadion mit 2:1. In der Nationalelf wurden die Profis allerdings weiterhin wie Amateure behandelt – bis Johan Cruyff die Bühne betrat und eine Revolution auslöste.

      Kapitel 3: Ajax, Mokum, Israel

      „Wäre Cruyff ein Jude, dann würde er die Liste der größten jüdischen Sportler anführen.“

      www.jewornotjew.com

      Johannes Hendrik Cruyff, genannt Johan, wächst in einer Umgebung auf, in der sich alles um Fußball dreht. Geboren wird er am 25. April 1947 als zweiter Sohn von Hermanus Cornelis „Manus“ Cruijff und Petronella Bernarda „Nel“ Draaijer. Sein Elternhaus in der Akkerstraat 32/Ecke Tuinbowstraat gehört zur Siedlung Betondorp und liegt unweit von De Meer, der damaligen Heimat von Ajax Amsterdam.

      Das „Betondorf“ befindet sich im Osten Amsterdams, im Stadtteil Tuindorp Watergraafsmeer, einem im 17. Jahrhundert entstandenen Polder. Bis 1921 war Watergraafsmeer eine eigenständige Gemeinde mit etwa 10.000 Einwohnern. Gebaut wurde das „Dorp“ in den frühen 1920ern, als Reaktion auf die nach dem Ersten Weltkrieg herrschende Wohnungsnot in Amsterdam. Insbesondere das traditionsreiche Kleinhändler- und Handwerkerviertel Jordaan mit seinen engen Straßen, wo Johan Cruyffs Großvater lebte und Kartoffeln verkaufte („Cruijffs Aard-appelhandel“) und wo auch die Eltern aufwuchsen, litt unter Überfüllung.

      Betondorp war ein architektonisches Experiment: Zehn Architekten entwarfen 900 Gemeindewohnungen. Ein Teil der Häuser wurde aus Backsteinen gebaut, beim anderen Teil wurden erstmals im großen Stil Fertigbauteile aus Beton verwendet. Viele Häuser erinnern deshalb optisch an Kartons. Die Wohnungen wurden zunächst vorrangig an Beamte und Facharbeiter vermietet. Kirchen und Kneipen gab es in der Siedlung nicht.

      Betondorp wurde auch das „rode Dorp“ genannt, denn viele seiner Bewohner sympathisierten mit den Kommunisten und Sozialisten. Es ist ein einfaches und enges Wohngebiet, aber nicht arm. Ein Haus reiht sich an das andere, nur sehr selten wird diese Kette von unbebauten Lücken unterbrochen. In der Regel sind die Häuser zweistöckig, vereinzelt auch ein- oder dreistöckig. Die Straßennamen suggerieren einen ländlichen Charakter: So gibt es die Graanstraat (Getreidestraße), Oogst-straat (Erntestraße), die Veeteeltstraat (Viehzuchtstraße), die Landbouwstraat (Landbaustraße) und die Akkerstraat (Ackerstraße). Doch freie Flächen gibt es kaum, die Gärten messen, sofern sie überhaupt existieren, nur wenige Quadratmeter. Wer draußen spielt, muss auf die Gehwege und Straßen.

      Noch heute wirkt Betondorp wie ein Dorf in der Stadt, eingekapselt vom Middenweg im Osten, der A10 und dem Gooiseweg mit ihren hohen Böschungen im Süden bzw. Westen und einem Kanal im Norden. Rund 3.000 Menschen leben heute in dem sternförmig angelegten Viertel mit dem Platz de Brink als Mittelpunkt. Am Brink 24 liegt die legendäre Slagerij Korrel, die 1946 eröffnete. Auch die Cruyffs kauften dort ein.

      Der Fußballstar Johan Cruyff ist nicht der erste und einzige Betondorper, der es zu Prominenz bringt. Der Schriftsteller Gerard Kornelis van het Reve (1923-2006), der zu den Großen der modernen niederländischen Literatur gezählt wird, der Fotograf und Filmemacher Ed van Elsken (1925-1990), der u. a. in zahlreichen renommierten Museen wie der Museum of Modern Art in New York, dem Art Institute of Chicago und dem Amsterdamer Stedelijk Museum ausstellte und 1971 den Staatspreis der Niederlande für Film erhielt, der ehemalige KLM-Manager Leo van Wijk (Jg. 1946), der mit Cruyff in der Ajax-Jugend kickte, als Baseballspieler aber erfolgreicher