Intuition aufgeht.
Nun aber die schwierige Frage: Was soll der Nichthistoriker aus den ausgewählten Quellen notieren und exzerpieren? Den materiellen Sachinhalt haben zahllose Handbücher längst ausgebeutet; nimmt er diesen heraus, so türmen sich Exzerpte auf, die er nachher wohl nie mehr ansieht. Und ein spezielles Ziel hat der Leser ja noch nicht.
Es kann sich ihm aber eines ergeben, wenn er sich ansehnlich weit und noch ohne zu schreiben in seinen Autor hineingelesen hat; dann beginne er frisch von vorn und notiere nach jenem einzelnen Ziele hin, lege aber eine zweite Reihe von Notizen über alles dasjenige an, was ihm überhaupt besonders merkwürdig vorkommt, und wären es nur die Kapitelangaben respektive die Seitenzahlen mit zwei Worten in Betreff des Inhaltes.
Über der Arbeit ergibt sich dann vielleicht ein zweites und drittes Ziel; Parallelen und Kontraste mit anderen Quellen finden sich hinzu usw.
Freilich »mit alledem wird ja lauter Dilettantismus gepflanzt, welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen!«
Das Wort ist von den Künsten her im Verruf, wo man freilich entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muss, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen.
In den Wissenschaften dagegen kann man nur noch in einem begrenzten Bereiche Meister sein, nämlich als Spezialist, und irgendwo soll man dies sein. Soll man aber nicht die Fähigkeit der allgemeinen Übersicht, ja die Würdigung derselben einbüßen, so sei man noch an möglichst vielen anderen Stellen Dilettant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspunkten; sonst bleibt man in allem, was über die Spezialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im Ganzen ein roher Geselle.
Dem Dilettanten aber, weil er die Dinge liebt, wird es vielleicht im Lauf seines Lebens möglich werden, sich auch noch an verschiedenen Stellen wahrhaft zu vertiefen.
4. Natur und Geschichte
Endlich gehört hierher auch noch ein Wort über unser Verhältnis zu den Naturwissenschaften und der Mathematik als unseren einzigen uneigennützigen Kameraden, während Theologie und Jus uns meistern oder doch als Arsenal benützen wollen und die Philosophie, welche über allen stehen will, eigentlich bei allen hospitiert.
Ob das Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften ihrerseits alle geschichtliche Betrachtung schlechterdings ausschließe, fragen wir dabei nicht. Jedenfalls sollte sich die Geschichte des Geistes nicht von diesen Fächern ausschließen lassen.
Eine der riesigsten Tatsachen dieser Geschichte des Geistes war die Entstehung der Mathematik. Wir fragen uns, ob sich von den Dingen zuerst Zahlen oder Linien oder Flächen loslösten. Und wie schloss sich bei den einzelnen Völkern der nötige Konsensus hierüber? Welches war der Moment dieser Kristallisation?
Und die Naturwissenschaften, wann und wie lösten sie zuerst den Geist von der Furcht vor der Natur und ihrer Anbetung, von der Naturmagie? Wann und wo wurden sie zuerst annähernd ein freies Ziel des Geistes?
Freilich hatten auch sie ihre Wandlungen, ihren zeitweiligen Dienst und ihre systematische Beschränkung und gefährliche Heiligung innerhalb bestimmter Grenzen – bei Priestern.
Aufs Schmerzlichste ist die Unmöglichkeit einer geistigen Entwicklungsgeschichte Ägyptens zu beklagen, die man höchstens in hypothetischer Form, etwa als Roman, geben könnte.
Bei den Griechen kamen dann für die Naturwissenschaften die Zeiten der völligen Freiheit; nur taten sie relativ wenig dafür, weil Staat, Spekulation und plastischer Kunsttrieb die Kräfte vorwegnahmen.
Auf die alexandrinische, römische und byzantinisch-arabische Zeit folgt dann das okzidentalische Mittelalter und die Dienstbarkeit der Naturwissenschaften unter der Scholastik, welche nur das Anerkannte stützt.
Aber für die Zeit seit dem 16. Jahrhundert sind sie einer der wichtigsten Gradmesser des Genius der Zeiten. Was sie etwa retardiert, sind sehr häufig die Academici und Professoren.
Ihr Vorwiegen und ihre Popularisierung im 19. Jahrhundert ist ein Faktum, bei dem wir uns unwillkürlich fragen, worauf es hinauswühle, und wie es sich mit dem Schicksal unserer Zeit verflechte.
Und nun besteht zwischen ihnen und der Geschichte nicht nur deshalb Freundschaft, weil sie, wie gesagt, allein nichts von ihr verlangen, sondern weil diese beiden Wissenschaften allein ein objektives, absichtsloses Mitleben in den Dingen haben können.
Die Geschichte ist aber etwas anderes als die Natur, ihr Schaffen und Entstehen- und Untergehenlassen ist ein anderes.
Die Natur bietet die höchste Vollendung des Organismus der Spezies und die größte Gleichgültigkeit gegen das Individuum, ja sie statuiert feindliche, kämpfende Organismen, die bei annähernd gleich hoher organischer Vollendung einander ausrotten, miteinander ums Dasein kämpfen. Auch die Menschengeschlechter im Naturzustand gehören noch hierher: Ihre Existenz mag den Tierstaaten ähnlich gewesen sein.
Die Geschichte dagegen ist der Bruch mit dieser Natur vermöge des erwachenden Bewusstseins; zugleich aber bleibt noch immer genug vom Ursprünglichen übrig, um den Menschen als reißendes Tier zu zeichnen. Hohe Verfeinerung der Gesellschaft und des Staates besteht neben völliger Garantielosigkeit des Individuums und neben beständigem Triebe, andere zu knechten, um nicht von ihnen geknechtet zu werden.
In der Natur besteht regnum, genus, species, in der Geschichte Volk, Familie, Gruppe. Durch einen urtümlichen Trieb schafft jene konsequent-organisch in unendlicher Varietät der Gattungen bei großer Gleichheit der Individuen; hier ist die Varietät (freilich innerhalb der einzigen Spezies homo) lange nicht so groß; es gibt keine scharfen Abgrenzungen, die Individuen aber drängen auf Ungleichheit = Entwicklung.
Während die Natur nach einigen Urtypen (wirbellose und Wirbeltiere, Phanerogamen und Kryptogamen usw.) schafft, ist beim Volk der Organismus nicht so sehr Typus wie allmähliches Produkt; er ist der spezifische Volksgeist in seiner allmählichen Entwicklung.
Jede Spezies der Natur besitzt vollständig, was zu ihrem Leben gehört; besäße sie es nicht, so lebte sie nicht und pflanzte sich nicht fort. Jedes Volk ist unvollständig und sucht sich zu ergänzen, je höher es steht, umso mehr.
Dort ist der Entstehungsprozess der Spezies dunkel; vielleicht ist er in Aufsummierung von Erlebnissen begründet, welche zur Aufgabe hinzutreten, aber viel langsamer und altertümlicher. Der Entstehungs- und Modifikationsprozess des Volkstums beruht erweislich teils auf der Anlage, teils ebenfalls auf Aufsummierung von Erlebtem; nur ist er, weil der bewusste Geist hier mithilft, viel rascher als in der Natur, mit nachweisbarer Wirkung der Gegensätze und der Verwandtschaften, auf die das Volkstum trifft.
Während in der Natur die Individuen gerade bei den höchsten Tierklassen für die anderen Individuen – ausgenommen etwa als stärkere Feinde oder Freunde – nichts bedeuten, findet in der Menschenwelt eine beständige Einwirkung bevorzugter Individuen statt.
Dort bleibt die Spezies relativ unverändert; Bastarde sterben aus oder sind von Anfang an unfruchtbar. Im geschichtlichen Leben ist alles voll Bastardtum, als gehörte dasselbe wesentlich mit zur Befruchtung für größere geistige Prozesse. Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung.
In der Natur erfolgt der Untergang nur durch äußere Gründe: Erdkatastrophen, klimatische Katastrophen, Überwucherung schwächerer Spezies durch frechere, edlerer durch gemeinere. In der Geschichte wird er stets vorbereitet durch innere Abnahme, durch Ausleben. Dann erst kann ein äußerer Anstoß allem ein Ende machen.
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