Rede im University-College in London am 17. März 1921
VORREDE
Der Wert von Wissen und Charakter ist uns hinlänglich eingeprägt worden. Über die Freiheit haben wir so viel gehört, dass wir sie als eigentliches Ziel betrachten und nicht als Mittel zum Zweck oder notwendige Voraussetzung. Schönheit hingegen betrachten wir fast als etwas typisch Feminines. Poesie, Musik und Literatur erscheinen dem gewöhnlichen englischen Schüler äußerst verdächtig, und er möchte sein Männlichkeitsideal mit nichts anderem teilen. Dennoch behauptet sich die Schönheitsliebe trotz aller Entmutigungen, und sie wird sich nicht unterdrücken lassen. Besonders die Schönheit der Natur besteht auf einem festen Platz in unserer Zuneigung, die sich ursprünglich aus der Liebe herleitet; wesentlich und untrennbar mit ihr verknüpft, gesteht die Schönheit der Natur lediglich der Liebe eine Vorrangstellung zu. Und sie verdient unsere großzügige Anerkennung, ist sie doch Wohltat und Erfrischung für unsere Seele.
Die genaue Beobachtung und anschauliche Beschreibung von Naturschönheiten ist zumindest ebenso notwendig für die Lebensfreude wie die Beschäftigung mit der Wissenschaft, der so viel Beachtung gezollt wird. Erstere beschäftigt sich nämlich mit dem Charakter, Letztere nur mit den Ursachen von natürlichen Phänomenen; und von diesen beiden ist der Charakter wichtiger. Es ist in der Tat an der Zeit, dass wir Engländer uns des Wertes von Naturschönheiten bewusster werden. Denn wir werden als Naturliebhaber geboren, und es gibt wohl keine poetischere Rasse als die unsere. Sobald unser Land sich von seiner besten Seite zeigt, etwa an einem Frühsommertag, ist es der wohl lieblichste Ort der Welt. Und wir ziehen von dieser unserer Inselheimat hinaus in jedes andere Land. Wir haben daher unvergleichliche Möglichkeiten, unzählige Arten von Naturgegenständen zu sehen. Indem wir die Natur in so vielen verschiedenen Aspekten betrachten und unsere Eindrücke miteinander vergleichen, sollten wir in der Lage sein, die Natur besser zu verstehen als irgendeine andere lebende Art. Und indem wir bereitwillig mit ihr in eine Gemeinschaft eintreten, sollten wir besser als andere erkennen, welche Schönheit in ihr wohnt.
Ich bin mir bewusst, dass ich selbst nur unangemessenen Gebrauch von den hervorragenden Möglichkeiten gemacht habe, auf all meinen Reisen die Schönheit der Natur zu sehen. Daher liegt mir um so mehr daran, dass alle, die mir nachfolgen, nicht durch ähnliche Unterlassung die gleiche Sünde gegen sich selbst und gegen unser Land begehen. Wir schulden es uns selbst und der ganzen Menschheit, unserer instinktiven Liebe zur Schönheit der Natur freien Lauf zu lassen und jede Neigung und Fähigkeit zu ihrer Wertschätzung einzuüben und zu vervollkommnen, bis wir schließlich ihre Pracht in allen Feinheiten erkennen können, von denen wir jetzt nur das erste schwache Glimmen erfassen.
Und sollte irgendein anderes Land uns an Wertschätzung voraus sein, dann steht es uns gut an, jenem Land nachzueifern und es womöglich zu übertreffen und zu lernen, die Natur besser zu verstehen und mehr Schönheit zu entdecken. Denn in der Liebe zur Schönheit der Natur und der Fähigkeit, mit ihr verbunden zu sein, müsste England eine herausragende Stellung einnehmen. Vor allen anderen Ländern sollte es dem Herzen der Natur am nächsten kommen.
Juni 1921 | F.E.Y. |
EINLEITUNG
Lasst Stadtkinder auf eine Wiese springen. Mit hellem Freudenruf stürzen sie sich auf die nächsten Blumen und pflücken sie. Heißhungrig pflücken sie Hände voll, Arme voll, als könnten sie nie genug bekommen. Sie sind genau wie Tiere, die in der Wüste zur Tränke stürzen. Sie löschen einen gewaltigen Durst ihrer Seele, den Durst nach Schönheit. Einige unter uns erinnern sich, wie wir in den Alpen oder im Himalaja zum ersten Mal Schneeberge erblickten. Wir rufen uns ins Gedächtnis zurück, wie unser Herz den Bergen entgegensprang, wie wir mit verhaltenem Atem staunten, wie unsere Augen sich gierig volltranken an dem herrlichen Schauspiel.
In Fällen dieser Art ist in der Naturerscheinung irgendetwas, das an etwas in unserem Wesen rührt. Etwas in uns stürmt dem Etwas in der Naturerscheinung entgegen. Eine verwandte Saite ist angeschlagen, eine Beziehung ist hergestellt. Es ist zum Zusammenklang zwischen uns und der Naturerscheinung gekommen. In der Blume, in dem Berg, in der Landschaft haben wir etwas erkannt, was wir in uns selbst wiederfinden. Eine leidenschaftliche Liebe zu der Naturerscheinung erfasst uns. Eine Verbindung findet statt. Unsere Seele vermählt sich der Seele der Naturerscheinung. Und im Augenblick dieser Verbindung wird die Schönheit geboren. Sie entspringt der Liebe, wie die Liebe selbst ihren Ursprung hatte in der Verbindung von Mann und Frau der Vorzeit.
Bei diesem Vorgang hängt alles von der Stimmung ab. Sind wir nicht in der richtigen Stimmung, so sind wir für Natureindrücke unempfänglich, und es bleibt stumm in uns. Wir kommen daher nicht zur Berührung mit der Natur. Darum sehen wir auch keine Schönheit. Sind wir dagegen feinfühlig und empfänglich gestimmt, sind unsere Gedanken nicht mit anderem beschäftigt, liegt unsere Seele den Eindrücken offen, die die Natur immerwährend auf sie niederträufeln lässt, dann antworten wir auf den Ruf der Natur. Wir fühlen uns mit ihr im Einklang, wir kommen zur Gemeinschaft mit ihr, und nun sehen wir die Schönheit.
Wenn wir in Stunden der Sorge und Betrübnis auf die Natur blicken, während sie gerade vor Licht und Heiterkeit strahlt, werden wir uns mit ihr nicht im Einklang finden, wir werden ohne Fühlung mit ihr sein und darum die Schönheit nicht schauen können.
In überquellender, froher Stimmung dagegen werden wir den Ruf der Natur außergewöhnlich empfänglich aufnehmen, und auch in einer knorrigen, entblätterten Eiche, in einer ärmlichen Alten an der Ecke einer armseligen Straße werden wir noch Schönheit finden können. Wenn in einer solchen Stimmung die Natur sich uns auch noch gerade in ihrem schönsten, strahlenden Licht zeigt, an einem Frühlingsmorgen etwa, wird die Schönheit, die wir dann erblicken, überwältigend groß sein, und wir werden uns, hingerissen von Freude, kaum zu fassen wissen.
Wir haben dann eine Übereinstimmung entdeckt zwischen dem, was in der Natur lebt, und dem, was in uns selbst lebt. Von der Betrachtung der Natur sind wir vor das Antlitz einer Macht geleitet worden, die größer ist als wir, jedoch uns gleicht; sie ruft die Gefühle hervor, die sich jetzt in uns regen. Wenn wir die Schönheit in der Natur erkennen, machen wir zugleich die Entdeckung, dass die Natur nicht bloß Körper ist, dass sie eine Seele hat oder eine Seele ist. Und die Freude in uns entspringt der Befriedigung, die unsere Seele im harmonischen Zusammenklang mit dieser Naturseele empfindet. Unsere Seele entdeckt die Wesensgleichheit in sich und in der Naturseele und empfindet Freude an dieser Erkenntnis.
Der Trieb zur Gemeinschaft aber mit unserer Art drängt uns, anderen das mitzuteilen, was wir selbst empfunden haben. Wir möchten den anderen erzählen, was wir gesehen und was wir erfahren haben.
Wir haben auch Sehnsucht danach, an der Freude teilzunehmen, die andere bei der Betrachtung der Natur gefühlt haben müssen. Wir möchten vor allem wissen und nachfühlen können, was jene empfunden haben, deren Seelen weit feinfühliger sind als die unsere, die großen Dichter, Maler, Musiker. Darum teilen wir unsere Gefühle anderen mit und darum suchen wir mit anderen die Verbindung, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung der Bücher, der Bilder, der Tonschöpfungen, um von ihnen zu erfahren, was wir noch weiter suchen sollen, und um besser zu erkennen, wie wir es suchen sollen. Indem wir das tun, wird unsere Seele empfänglicher für die Eindrücke, die von der Natur ausgehen; wir werden fähiger, diese Eindrücke wiederzugeben. Unser Sehvermögen nimmt zu. Unser seelisches Auge kommt zu schärferem Einblick, zu tieferem Schauen in die Seele der Natur. Wir können uns inniger in den Geist der Natur einfühlen, und leichter findet dieser Geist Eingang in uns. Wir gelangen zu vollkommenerem Einvernehmen mit der Natur, zu innigerem Zusammenklang mit ihr und sehen darum ein Mehr an Schönheit.
Wir sehen das, was die Natur tatsächlich ist. Wir sehen die Wirklichkeit hinter der Erscheinung, den Gehalt, den die Außenform umschließt.