auf einen Menschen vermag.
Dieses Gefühl einer Verwandtschaft mit der Natur ist in einem Menschen von der feinen Empfindlichkeit des Künstlers – des Malers, Dichters oder Musikers – hoch entwickelt. Er nimmt der Natur gegenüber eine ähnliche Stellung ein wie jene feinfühlige und höher entwickelte Künstlermücke dem Menschen gegenüber, jene Mücke, deren Verstehen des innersten Wesens des Menschen und seines Charakters ihr seine Züge erkennen und seine Schönheit schauen ließ.
Was uns Durchschnittsmenschen obliegt, was wir vor allem von solchen verlangen möchten, die mit besonders feinfühliger Seele begabt sind, ist: sich vor Augen zu halten, welche Schwierigkeiten für die Mücke bestehen, uns zu begreifen und irgendeine Schönheit in uns zu sehen – wie jene ihre Fähigkeiten schulen und pflegen müsste, ehe sie jemals hoffen könnte, den Ausdruck unserer Züge zu erfassen; dies im Auge zu behalten und dann uns selber in die Hand zu nehmen und die Seele in uns zu entwickeln, bis sie reif genug und groß genug ist, sich in die große Seele der Natur zu versenken.
Der Schönheitssinn, den wir alle in einem, wenn auch geringen Maß besitzen, ist an sich schon ein Beweis für eine geistige Wirklichkeit, die hinter der äußeren Erscheinung der Natur sich erhebt – ein »Ich« –, ebenso wie hinter der äußeren Erscheinung des Menschen, wie sie der Künstlermücke erschien, das Ich dieses Menschen stand. Und indem wir diesen Sinn pflegen, indem wir also unsere Befähigung entwickeln, tiefer in das Herz der Natur zu schauen, mehr Sinn und vertiefte Bedeutung in jeder Schattierung ihres wechselnden Mienenspiels zu erkennen, verständnisvoller zu lesen, was in der Tiefe ihrer Seele vorgeht, werden wir uns in den Stand setzen, die Schönheit der Natur voller und reicher zu schauen.
Erwartungsvoll sehen wir dem Erscheinen eines großen Künstlers unter uns entgegen. Die ihm angeborene besondere Feinfühligkeit der Seele wird er mit bewusster Überlegung erhöhen und steigern, die Erfahrungen anderer wird er kennenlernen, seine Erlebnisse mit den ihren vergleichen und er wird sich schulen, die Bedeutung jeder noch so leichten Andeutung zu erspähen, die die Natur von den Äußerungen der Seele in ihrem Inneren gewährt. Und schließlich wird er das Verwandte seines Fühlens mit dem der Natur erkennen und, von tiefer Leidenschaft für sie erfasst, sich ihr gänzlich hingeben, mit ihr sich vermählen, und in der Verbindung mit ihr Schönheit von überreicher Fülle und Kraft erzeugen.
Wir harren eines Künstlers, dessen Seele würdig ist, der Natur sich zu vermählen. Schwächliche seichte Künstler werden nicht viel mehr von der Natur wahrnehmen können als die Mücke von einem Menschen. Was uns nottut, ist ein Mann, wie es Julian Grenfell war, von seiner Körperbeschaffenheit, von seiner strotzenden Gesundheit und Lebensfreude, voll von tiefem Verständnis, dichterischer Kraft und Phantasie, erfüllt von Liebe zu den Tieren und zu seinen Mitmenschen, begabt mit Geschicklichkeit, körperlicher Tüchtigkeit und frohem Mut. Wir brauchen einen Mann, der Gelegenheiten nutzen kann, wie sie Grenfell hatte, der von Kindheit an, in London und auf Landsitzen, mit Menschen jedes Standes und aller Schichten verkehrte, mit Staatsmännern, Militärs, Künstlern, mit Freunden der Jagd und des Rennsports, mit Schuljungen, Studenten, Literaten, Jagdhütern, mit alter vertrauter Dienerschaft, kurz, mit Menschen jeder Art und jedes Standes. Wir brauchen einen Mann, der mit solcher Eignung auch die Eigenschaften eines Darwin verbände – seine Liebe zur Naturwissenschaft, seine Fähigkeit zu scharfer und genauer Beobachtung, seine geniale Befähigung, aus seinen Beobachtungen richtige Schlüsse zu ziehen, seine umfassende Kenntnis der Natur in ihren vielgestaltigen Äußerungen, seine verständnisvolle Einstellung jeder Pflanze und jedem Tier gegenüber und schließlich sein warmherziges liebevolles Wesen im ganzen Verkehr mit den Menschen.
Wir brauchen, kurz gesagt, einen Naturforscher-Künstler – eine Vereinigung von Julian Grenfell und Darwin. Dies wäre durchaus keine unerhörte, vielmehr eine äußerst wahrscheinliche und passende Vereinigung. Denn Julian Grenfell schuf große Dichtungen sogar in den Schützengräben Flanderns zwischen den beiden Ypernschlachten. Und bei seiner Liebe zum Landleben, zum Fischen und Jagen hätte seine Neigung sehr leicht der Naturgeschichte zugewendet werden können. Wäre es geschehen und hätte sich die Gelegenheit geboten, so hätten wir vielleicht gerade den Naturforscher-Künstler bekommen, auf den wir jetzt warten. Er hätte die körperliche Tüchtigkeit und Fähigkeit zum Ertragen von Strapazen gehabt, die das Bereisen jener Teile der Erde erfordert, in denen die Schönheit der Natur am größten ist, er hätte die Feinfühligkeit der Seele besessen, um Eindrücke aufzunehmen, und dazu die Fähigkeit des Ausdrucks, damit andere teilhaben können an dem, was er empfunden hat. Nach der anfänglichen Zeit der Jagd auf Vögel und vierfüßige Tiere hätte er das lohnendere Stadium der Beobachtung der Tierwelt erreicht, und er hätte an die Beobachtung ihrer Lebensgewohnheiten und ihrer Lebensweise die gleiche Geschicklichkeit, das gleiche scharfe Unterscheidungsvermögen gewendet wie bei der Jagd auf sie. Bei seiner angeborenen echten Liebe zur Tierwelt hätte Grenfell als Naturforscher recht wohl ebenso bedeutend werden können, wie er es als Sportsfreund und als großer Dichter schon war.
Des Kommens eines solchen Naturforscher-Künstlers harren wir. Wir müssen ihm jedoch den Weg bereiten und an unserem Teil mithelfen, ihn hervorzubringen. Dabei mitzuwirken, soll mein Bestreben sein, denn das Schicksal wollte es, dass ich gesegnet war mit Gelegenheiten – die ich teils selbst geschaffen, teils geboten erhielt –, wechselvollere Bilder zu sehen, als es sonst den meisten Menschen beschieden ist. Ich denke mit Beschämung daran, welch schwachen Gebrauch ich von diesen Gelegenheiten gemacht habe, wie wenig ich vorbereitet und geschult war, sie möglichst auszunützen. Das eine aber vermag ich wenigstens zu tun: Ich kann den kommenden Künstler auf jene Gegenden der Erde hinweisen, wo sich ihm die Wahrscheinlichkeit bietet, die Schönheit der Natur in vollster Entfaltung und im reichsten Wechsel zu schauen.
In dieser Absicht will ich mit dem Sikkim-Himalaja beginnen, den der Adler überflog, denn er bietet auf kleinem Raum ein wahres Handbuch der Natur. Unmittelbar aus den Ebenen Indiens aufsteigend, eigentlich noch in den Tropen, erhebt sich dieses Gebirge hoch über die Grenze des ewigen Schnees hinaus. Seinen Fuß überzieht eine üppige Pflanzendecke von wahrhaft tropischer Art, und diese Pflanzendecke erstreckt sich durch alle Zonen, von der tropischen über die gemäßigte zur polaren. Ebenso ist es mit den vierfüßigen Tieren, den Vögeln und den Insekten. Hier findet man auch Vertreter der Menschen aller Klimate. In ähnlicher Weise bewegt sich die Art der Landschaft zwischen Ebene und Hochgebirge. Brausende Sturzbäche gibt es und breite, beschaulich fließende Ströme. – Der Sikkim-Himalaja, der nach der einen Seite auf die Ebenen Indiens, nach der anderen auf die Steppen Tibets hinabschaut, ist zum Studium der Schönheit in der Natur das geeignetste Gebiet, das ich kenne.
Aber in Kaschmir und hinter Kaschmir, im mächtigen Karakorumgebirge, gibt es Schönheiten, die in Sikkim nicht zu finden sind. Und die Wüste wiederum bietet Schönheiten, die weder Sikkim noch Kaschmir aufzuweisen haben. Darum muss ich den Künstler auch in diese Gebiete führen.
Sikkim und Kaschmir wähle ich, weil es leicht zugängliche Gebiete sind. In sie können Menschen, die nach Schönheit dürsten, immer wieder zurückkehren, bis sie von der diesen Gebieten eigenen Atmosphäre gesättigt sind und ihr innerstes Wesen in sich aufgenommen haben, bis ihnen klar geworden ist, in welch hohem Maß die Züge dieser Landschaften Empfindungen ausdrücken, für die sie nach Ausdruck ringen – ihr Streben nach dem Höchsten und Reinsten, ihr Sehnen nach Ruhe, ihr beglücktes Sichfreuen an Wärme und Zuneigung, oder welche Empfindung sie immer bewegen mag. Tausende von Engländern, fein gebildete Inder und Reisende aus der ganzen Welt besuchen alljährlich den Himalaja, einige des Sports, andere der Gesundheit, noch andere gesellschaftlicher Genüsse wegen. Unter ihnen befindet sich vielleicht unser Naturforscher-Künstler, den Jahr um Jahr seine Liebe zur Schönheit der Natur nach Sikkim und Kaschmir zieht, der dadurch das wunderbare, vielgestaltige Bild der Natur kennenlernt, wie es in jenen begnadeten Gegenden zu schauen ist, und der so zu immer mehr sich vertiefender Gemeinschaft mit der Natur gelangen würde, Jahr um Jahr mehr Schönheit in ihr erblickte und den Genuss, den er gehabt hatte, uns übermittelte.
Aber der Bereich der Schönheit der Natur schließt sehr viel mehr ein als nur das Landschaftsbild. Er umfasst die Schönheit aller Gegenstände der Natur, der Männer und Frauen ebenso wie der Berge, Tiere und Pflanzen. Darum muss der Künstler auch diese in seinen Bereich einbeziehen. Seine Liebe zur Natur, folglich auch seine Fähigkeit, ihre Schönheit zu sehen, wird umso gesicherter