Francis Edward Younghusband

Das Herz der Natur


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zurechtfinden würden, wenn wir vom Weg abirrten. Das Ganze erweckt in hohem Maß eine Empfindung der Scheu und auch eine gewisse Bangigkeit. Dennoch durchzittert es uns freudig beim Anblick so überreichen, gesteigerten, mannigfaltigen Lebens.

      In dieser heißen, dampferfüllten Luft wachsen Pflanzen und Bäume in wuchernder Fülle. Jeder Zoll Erdreich ist besetzt. Und in diesen Wäldern ist es nicht so wie in unserem heimischen Wald, der nur drei oder vier Baumarten umfasst, Eichen, Buchen, Ahorn usw. In diesen Wäldern von Sikkim sehen wir nur selten zwei Bäume der gleichen Art beisammenstehen. Es mag eine Baumart vorwiegend vertreten sein, aber es macht sich immer eine große Mannigfaltigkeit geltend in den Formen und Farben der Stämme, der Äste, Blätter und Blüten und im Wuchs. Es gibt dort Bäume von ungeheurer Höhe mit schlank ragendem, kraftvoll aufrechtem Stamm, und dann wieder gibt es Sträucher wie Hortensien von jeder Größe und Beschaffenheit. Es wachsen dort Kletterpflanzen von Kabeldicke und zarte Pflänzchen, die sich kaum über den Erdboden erheben. Die Pflanzenwelt ist von unbegrenzter Mannigfaltigkeit, und mit einer Regung freudigen Entzückens stoßen wir auf Köstlichkeiten, eine nach der anderen, die wir bisher nur in irgendeinem kostspieligen Gewächshaus zu sehen bekommen hatten, wo sie mit unendlicher Mühe gezüchtet werden.

      Dabei haben wir die Empfindung, das, was wir gewahren, sei nur eine beiläufige Musterprobe dessen, was zu sehen ist. Was mag es nicht alles geben, dort in den tiefen Waldesgründen, die wir, aus Sorge uns zu verirren, nicht zu betreten wagen! Auf welch ragende Könige des Waldes würden wir vielleicht noch stoßen, wenn wir uns in seine Tiefen stürzen wollten! Auf welch köstliche Blumen, welche Insekten, Vögel, vierfüßige Tiere! Was für ein reiches Insektenleben mag sich in den Wipfeln der Bäume abspielen, dort, wo von einer sengenden Sonne, die uns die Blätter verbergen, die Blüten hervorgetrieben werden! Was mag im Boden unter unseren Füßen nicht alles vor sich gehen! In diesen Wäldern gibt es – nahe genug vielleicht, um uns gewahr zu werden, wenn auch ihre Gestalten uns durch die Ähnlichkeit mit der blätterreichen Umgebung und durch das Fleckenspiel der Sonnenkringel verborgen bleiben – Tiere so verschiedener Art, wie Elefant, Tiger, Leopard, Fuchs, Eichhörnchen und Fledermaus; Vögel wie Habicht, Papagei und Fink; Insekten, von den Schmetterlingen, Bienen und Wespen angefangen bis zu Grillen, Käfern und Ameisen. Wir wissen, dass der Wald bei all seinem Reichtum an Baum- und Pflanzenleben auch übervoll ist vom Leben der vierfüßigen Tiere und der Insekten; von diesem sehen wir freilich nur sehr wenig, so sorgfältig wissen sich die Tiere zu verbergen. Nachts kommen sie hervor, und morgens und abends ist der dröhnende Lärm der Insekten ohrenbetäubend. In der Mittagstunde aber herrscht ein zartes, feierliches Schweigen, und gespannteste Neugierde erfüllt uns zu wissen, was sich alles dort in den geheimnisvollen Tiefen des Waldes und oben in den Baumwipfeln abspielt, die so nahe und doch so ganz unzugänglich sind.

      Der mächtige Wald ist geradezu ein Auszug alles Lebens. Auf kleinem Raum zusammengedrängt finden sich hier Lebewesen jeder Gestalt und Abart, von der bescheidensten Pflanze bis zum König der Wälder, vom einfachsten Tierchen bis zum Elefanten, Affen und Menschen. Leben, Überfülle an Leben umgibt uns überall. Es ist aber nicht das geräuschvolle, lärmende, aufdringliche Leben der Städte. Es ist ein Leben voll verhaltener Spannung, voll unausgesprochener Möglichkeiten zum Guten wie zum Schlimmen. Das Geheimnis aber liegt darin: Wir schauen viel, haben jedoch die Empfindung, dass unendlich mehr noch dahinterliegt.

      Von diesem Leben des Waldes in seiner ganzen Fülle, Stärke und Mannigfaltigkeit werden wir mehr erfahren, je weiter wir das Tistatal hinaufwandern, bis dahin, wo es die Schneegrenze erreicht und das tropische Pflanzen- und Tierleben erst in gemäßigte und dann in arktische Formen übergeht. Zuvor aber müssen wir auf einige der Schönheiten des Tals selbst achten.

      Das Tal des gewaltigen Tistaflusses, die Täler seiner Zuflüsse, die Schluchten, durch die der Hauptstrom und seine Zuflüsse hinabbrausen, die Wasserfälle, die einer nach dem anderen über die Abhänge des Gebirges stürzen, die weltabgeschiedenen Tälchen und Mulden – sie alle nennen Schönheiten ihr eigen, die die ungeheuerlichen Regengüsse und die Nebel, in die sie meist gehüllt sind, nicht verbergen, sondern nur verstärken können.

      Der Tistastrom selbst, obwohl nur ein kleiner Nebenfluss des Brahmaputra, ist nichtsdestoweniger zur Regenzeit, wo er durch sie wie durch die Schnee- und Gletscherschmelze im Kantschindschangagebiet genährt wird, von eindrucksvoller Macht und Kraft. Mit einer Gewalt und Wildheit, der nichts zu widerstehen vermöchte, wälzt er sich das Tal hinab. Von seiner stürmischen Heftigkeit würde alles hinweggefegt werden. Denn er ist kein kleiner wilder Bergstrom, er hat Tiefe und Wucht und Fülle, und in gewaltigen Wogen und Schnellen rollt er hoheitsvoll daher. Verglichen mit der heiteren Gelassenheit der erhabenen Gipfel ist hier Leben und Kraft und Tätigkeit vollauf, und allem Anschein nach macht sich die Tätigkeit durch Zerstörung geltend. Während wir aber von der Geborgenheit einer Brücke aus, die menschliche Schöpferkraft darübergeschlagen hat, auf den Aufruhr hinschauen, durchzuckt es uns doch seltsam. In dem Strom liegt eine mächtige Tatkraft. Wir sind von der Macht, die er entfaltet, wie gebannt. Er ist herrlich zu schauen, in gewisser Hinsicht wohl auch beunruhigend. Wir wissen aber, dass er nur innerhalb bestimmter, streng festgesetzter Grenzen handeln kann. Einen Fußbreit darüber hinaus ist er machtlos. Und während ihm schon von der Natur diese Grenzen gezogen sind, wird, das wissen wir, auch der Tag einst kommen, da er völlig unter der Herrschaft des Menschen stehen und seine Gewalt ganz für unsere eigenen Ziele verwertbar sein wird. So ist es schließlich doch kein Gefühl des Entsetzens, mit dem wir dem tobenden Strom bei seinem überstürzten Lauf zuschauen. Wir genießen vielmehr diesen Anblick siegessicherer Tatkraft, die dereinst dem Menschen zur Verfügung stehen wird. Mit dem Strom zusammen erfreuen wir uns eines Machtgefühls, und darin liegt für uns seine Schönheit.

      Wir betrachten die ungeheuerlichen Schluchten, durch die der Strom sich seinen Weg bahnt, und wieder erfüllen uns Staunen und Scheu. Unmittelbar uns gegenüber steht eine kahle, glatte Felswand von härtestem, starrstem Gestein. Ganz senkrecht kann sie nicht sein, aber sie scheint so. Ihr Anblick allein schon stählt unsere Seele. Hier ist granitene Festigkeit und doch nicht nur beschränkter Eigensinn. Denn diese Felswände, so sagen uns die Geologen, haben sich aus eigener innerer Kraft zu ihrer heutigen stolzen Höhe erhoben. Dem Strom mussten sie allerdings Raum geben, indem sie sein schon zuvor bestehendes Durchgangsrecht anerkennen und bei ihrem Drang zur Höhe ihm einen Weg überlassen mussten. So viel an Zoll verlangt der Strom unnachsichtig Jahr um Jahr von ihnen. Nachdem sie diesen Zoll entrichtet haben, sind sie in einer Entwicklung von stetiger, ausdauernder Beharrlichkeit gestiegen und haben sich rein durch die Festigkeit und Zähigkeit ihrer Eigenart in ihrer erhöhten Stellung erhalten. Wie sie jetzt hoch über uns in die Wolken ragen, triefend von warmer Feuchtigkeit, in jeder nutzbaren Spalte anmutige Farne und Bäume mit emportragend, wie sie die Grundpfeiler bilden jener schneeigen Gipfel, die hin und wieder für einen Augenblick sichtbar werden: Da empfinden wir das Eindrucksvolle nicht nur der Höhe des Strebens, die diese Gipfel verkörpern, sondern auch die Kraft und Beharrlichkeit, die notwendig waren, um jenes Streben durchzuführen.

      Zeitweise fühlen wir uns freilich überwältigt, eingeschlossen und überschattet von dem, was so unendlich viel größer erscheint als wir selbst. Der tosende Strom füllt die Mitte der Schlucht aus. Zu beiden Seiten steigen steil die schroffen Felswände auf. Für den Augenblick scheinen wir zu winzig, um mit Verhältnissen von so gigantischer Größe den Kampf aufzunehmen. Manchmal aber umgingen wir die Felswände und kamen nach langem, ermüdendem Umweg hoch über ihnen heraus; manchmal auch sprengten wir uns einen Weg quer durch; so haben wir bewiesen, dass wir imstande sind, sie zu überwältigen. Sie schrecken uns nicht länger. Auf dem Rückweg das Tal hinunter, nachdem wir bis zu seinem obersten Rand gelangt waren, betrachten wir diese Felswände mit ungetrübter Freude. Sie führen uns klar die Kraft vor Augen, die sich mit dem Streben nach hohen Zielen verbinden muss, sollen diese Ziele erreicht werden. Ohne die tragende Stütze dieser widerstandsfähigen Felsen hätte das Gebirge seine jetzige Höhe nie erreichen können. Darum fühlen wir mit den Felswänden Freude über ihre Festigkeit und Kraft, mit denen sie sich stolz der Welt entgegenstellen. Und wir erkennen, dass in dieser Festigkeit und in dieser Beständigkeit des Strebens ihre besondere Schönheit beruht.

      Im Gegensatz zum wirbelnden Strom und zu den harten, rauen Felswänden dicht in ihrer Nähe und an einer bescheidenen Ader eines Zuflusses versteckt in den Tiefen des stillen Waldes, stoßen