Francis Edward Younghusband

Das Herz der Natur


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und Kurven. Sie ist offensichtlich eine erfinderische Einrichtung, die zu einem besonderen Zweck bestimmt ist. Wie wir jetzt wissen, ist dieser Zweck das Anlocken von Insekten, die beim Saugen des Orchideenhonigs unbewusst auf ihren Flügeln oder Rücken den Blütenstaub mit sich forttragen und damit eine andere Orchidee befruchten. Ob freilich das Insekt im Verlauf langer Jahrhunderte des Bohrens an der Orchidee diese zwang, sich ihm anzupassen, oder ob die Blüte das Insekt zwang, sich seinerseits anzupassen, oder ob – was wohl das Wahrscheinlichste ist – sich im Laufe der Jahrhunderte ein Vorgang gegenseitiger Anpassung abgespielt hat und Blüte und Insekt sich allmählich aufeinander eingerichtet haben, das ist unter Naturforschern noch eine Streitfrage.

      Wir können keine Orchideen irgendwelcher Art pflücken, ohne über ihren verwickelten Bau zu staunen. Wenn wir sie in ihrer natürlichen Umgebung, im Wald selbst, betrachten und dabei die ungeheuren Mengen der Insekten um sie herum sehen und deren unendliche Verschiedenheit an Größe, Gestalt und Gewohnheiten; Insektenart sich auslesen und für deren Bedürfnisse die entsprechende Nahrung beschaffen, während das Insekt andererseits unter allen Blumen die besondere Orchideenart auswählen muss; wenn wir sehen, wie Insekt, ob Schmetterling, Biene, Motte, Schnake oder Ameise oder irgendeine andere der zahlreichen Insektenarten, und Orchideen sich aufeinander einstellen müssen – dann erkennen wir, wie wunderbar die gegenseitige Anpassung von Insekt und Blüte gewesen sein muss. Wir sehen, wie die besondere Orchideenart die besondere Bienenart und wie diese ihrerseits jene auserwählt haben muss, wie dann Biene und Orchidee darangingen, sich einander anzupassen, die Orchidee, indem sie alle Kunstgriffe der Farbe, des Duftes, der Süße des Honigs anwandte, um das Insekt anzulocken, und indem sie allmählich die Form annahm, die dem Insekt erlaubt, besser zum Honig zu gelangen; das Insekt seinerseits, indem es seinen Rüssel verlängerte und auch in anderer Weise sich anpasste, um das, was es haben will, sich desto besser zu sichern. Und wir sehen nun, wie vollkommen, oder nahezu vollkommen, der Bau der Blüte ihrem Zweck entspricht.

      Vielleicht das am meisten Bewundernswerte an einer Orchidee ist die Tatsache, dass dieses Wunder an Farbe, Gestalt und Bau sich aus einem höchst unförmigen, unschönen, unähnlich aussehenden Knollen heraus entfaltet. Aus formlosen, farblosen Knollen, die sich an Baumstämmen und Ästen festsetzen oder an Felsen anklammern, gehen diese Aristokraten der Blumenwelt hervor, die ihresgleichen nicht haben, von vollendetem, fleckenlosem Schliff, nur durch ihren Rang und ihre Vollendung in jeder Einzelheit als Erste herrschend; und auch dadurch ausgezeichnet, dass ihre Schönheit offensichtlich nicht die Eintagsschönheit einer Winde ist, die im Augenblick welkt und dahinschwindet, sondern dass sie eine Schönheit ist, die zu höchster Reife gelangte, die kraftvoll, tief und beständig ist.

      Von den 450 Orchideenarten, die in den Wäldern von Sikkim vorkommen, sind viele sehr selten. Glücklicherweise sind die seltensten Arten nicht auch die schönsten an Farbe und Gestalt. Manche besonders schöne Orchideen sind zugleich sehr häufig. Am verbreitetsten sind die Dendrobien, von denen es etwa vierzig Arten gibt. Die schönste und bekannteste ist Dendrobium nobile. Sie wächst in den tiefer liegenden Bergen und Tälern bis in 1500 Metern Höhe, aber auch in der Ebene. Die Blüten wechseln sowohl in der Größe als auch in der Farbentönung; in Sikkim jedoch sind die Kelch- und Blütenblätter immer purpurfarben, sie gehen am Blattgrund in Weiß über. Die Blumenblattspitze hat in der Mitte einen Fleck von sehr tiefem Purpurrot, den ein breiter blassgelber oder weißer Rand umgibt. In englischen Treibhäusern ist diese Orchidee jetzt sehr verbreitet; hier ist also ein Berührungspunkt mit dem Tropenwald gegeben. Dendrobium densiflorum ist verbreitet und gedeiht so ziemlich in dem gleichen Gebiet. Die Blüten stehen in einer dichten Traube an einem Stängel, ungefähr wie bei der Hyazinthe. Die Kelch- und Blütenblätter dieser schönen Art sind blassgelb, während die Lippe von sattem Orangerot ist. Eine der reizvollsten der Sikkim-Dendrobien duftet wie ein Veilchen; Kelch- und Blütenblätter sind weiß mit violetten Spitzen; der Stängel kann bis zu ¾ Meter lang werden. Eine weitere bemerkenswerte Dendrobie ist Dendrobium pierardi, in deren Farbe ein wundervolles Rosenrot oder ein leichtes Purpurrot vorwiegt.

      Nach den Dendrobien verdienen die Coelogyne-Arten die meiste Beachtung. Coelogyne cristata ist in Höhen von 1500 bis 2400 Metern verbreitet und blüht den ganzen März und April. Sie hat zahlreiche große Blüten, durchweg reinweiß bis auf die Lamellen der Lippe, die gelb sind. Im Orchideenhaus im Botanischen Garten zu Kew bei London kann man sie im März in Blüte sehen. In den Wäldern wächst sie in solcher Fülle, dass sie einem abgestorbenen Baumstamm das Aussehen gibt, als sei er schneebedeckt.

      Coelogyne humilis ist unter dem Namen Himalajakrokus bekannt. Sie wächst wie ein Krokus aus einer Knollenzwiebel in Höhen von 2100 bis 2550 Metern und blüht den Februar und März hindurch. Die Blüten sind weiß und haben 5 bis 6¼ Zentimeter im Durchmesser. Die Lippe ist gegen den Rand hin purpurgesprenkelt.

      Wenig verbreitet, aber größer und hübscher als die Dendrobien, sind die Cymbidien, von denen es sechzehn verschiedene Arten gibt; sie haben gewöhnlich lange, grasartige Blätter und vielblütige, hängende Blütentrauben mit schönen, großen Blumen. Eine sehr wohlriechende Art ist Cymbidium eburneum, die in Höhen von 300 bis 900 Metern häufig vorkommt und im März und April blüht. Die Farbe der Blüte ist vorwiegend elfenbeinweiß, der Wulst auf der Lippe jedoch von leuchtendem Gelb. Auch diese Pflanze ist im März in Kew zu sehen.

      Das sind einige der verbreitetsten Orchideen; sie alle gedeihen jetzt in England. Wir können daher allmählich im Tropenwald Fuß fassen und das Gefühl überwinden, als sei er uns gänzlich fremd. Je höher wir steigen, werden wir unter den Blumen noch viel mehr Freunde finden. Als Führer zu den Bäumen und Blumen haben wir glücklicherweise Sir Joseph Hooker, der in seinen »Himalaja-Tagebüchern« dieses Paradies des Botanikers in liebevollem Eingehen auf Einzelheiten geschildert hat; wir können daher nichts Besseres tun, als ihm zu folgen. Unter den vielen Pflanzen, die er erwähnt, können wir nur wenige herausgreifen, aber diese wenigen werden dazu beitragen, uns wenigstens eine annähernde Vorstellung vom Ganzen zu geben, und im Verlauf unseres Aufstiegs werden wir sehen, wie weit die Verschiedenheit der Formen geht.

      Wenn wir das Tal weiter hinaufsteigen bis in eine Höhe von etwa 1200 Metern, beginnen europäische Bäume und Pflanzen sich der tropischen Vegetation beizumengen. Es zeigen sich Hagebuchen, und Birke, Weide, Erle und Walnussbaum stehen Seite an Seite mit wilden Bananen, Palmen und riesenhaften Bambusstauden. Brombeersträucher, Ehrenpreis, Vergissmeinnicht wachsen neben Feigenbäumen, Balsambäumen, Pfeffersträuchern und riesigen Schlingpflanzen. Auf dem Boden findet sich die heimische Walderdbeere, während darüber tropische Orchideen, wie die Dendrobien, die Eichenstämme überziehen. Der Adlerfarn und der Bärlapp unserer britischen Moore wachsen in Gesellschaft mit Baumfarnen. Und dicht neben den Moosen des Himalajas stehen Moose der Heimat.

      Das Tal selbst setzt sich in gleicher Gestaltung fort, tief eingeschnitten, die Steilhänge waldbedeckt; der Pfad turnt über Querrippen hinüber, macht weite Umwege in Seitentäler hinauf oder scheuert längs der Felswände hin, die senkrecht über dem unten tobenden Strom stehen. Da und dort nur sind im Wald Lichtungen, wo Leptschas oder Nepaler sich ein paar Holzhäuser gezimmert haben und das Land in einfachster Weise bebauen. Im Übrigen befinden wir uns unter dem gleichen grünen Waldmantel, der sich überall über die Berge breitet, und obgleich wir jetzt quer durch die Hauptachse des Himalajas vordringen, ist uns selten auch nur ein flüchtiger Durchblick auf die schneebedeckten Höhen beschieden, die doch so nahe sein müssen.

      Während unseres Aufstiegs ist aber eine deutliche Änderung im Charakter der Vegetation wahrzunehmen. Die Bäume und Pflanzen, die im besonderen Maß die Tropen kennzeichnen, verschwinden allmählich, und immer mehr treten Blumen der gemäßigten Zone in Erscheinung. Und indem wir weiter in die Bergwelt eindringen, wird das Klima merklich trockener, der Wald lichter. Der Regen ist noch immer bedeutend genug, um im Allgemeinen jeder Pflanze und jedem menschlichen Wesen zu genügen. Aber es ist nicht mehr die Sintflut, die auf die vorgelagerten Höhenzüge niedergeht. Darum ist auch der Wald nicht mehr so dicht. An seiner Stelle bekleiden häufig gesellig wachsende Gräser die Berghänge, und gelbe Veilchen, Primeln, Anemonen, Rittersporn, Johannisbeersträucher und Steinbreche erinnern an Gebiete, die unseren heimischen verwandt sind.

      Jetzt haben wir auch den Standort der Rhododendren erreicht, die einen besonderen Ruhm gerade von Sikkim ausmachen, und es lohnt sich, etwas zu verweilen, um sie genauer zu betrachten.