Francis Edward Younghusband

Das Herz der Natur


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Gärten gezogen. Man kann sich daher in England eine gewisse Vorstellung machen von dem Anblick, den die blühenden Bäume des Waldes in Sikkim bieten. Aber die wenigen Proben, die man in einem englischen Park oder in einem Gewächshaus sieht, muss man sich stark vervielfacht denken und sich klarmachen, dass diese Rhododendrenbäume im Wald von Sikkim stehen wie Schlüsselblumen im Wiesengras. Rot, lila, weiß und gelb wachsen sie als gewaltige Blumen unter den grünen Riesen des Waldes und durchstrahlen ihn mit Farbe. Die einzelnen Blüten eines Rhododendron lassen sich an Schönheit nicht vergleichen mit einer Orchidee, von denen jede ihre besondere Gestalt hat. Sie besitzen weder die satte Farbenpracht noch die wunderbare Gestalt, noch erwecken sie den gleichen Eindruck einer vollreifen Vollendung. Der Anspruch auf des Rhododendrons Wertschätzung beruht vielmehr in der Wirkung der Blütenmasse als Ganzes; rein mit dem Gewicht der Zahl und Masse der Blumen bringt es seine Farbenwirkung hervor. In einigen der oberen Täler sind die Gebirgshänge wie in einen tiefgrünen Mantel gehüllt, in dem scharlachrote, weiße oder gelbe Blütenglocken aufglühen.

      Wohl das prächtigste dieser Rhododendren ist Rhododendron grande oder argenteum, das 9 bis 12 Meter hoch wird und wachsartige, glockenförmige Blüten hat von einem gelblichen, rosa überhauchten Weiß; es wird 5 bis 7½ Zentimeter lang und etwa ebenso breit. Das scharlachrote Rhododendron arboreum, das im Himalaja allgemein vorkommt, ist in Sikkim sehr verbreitet und bildet in den Wäldern leuchtende Farbflecke. Eine prachtvolle Art ist Rhododendron aucklandii oder griffithianum; es hat große weiße, rosa abgetönte Blüten von festem, fleischigem Bau und misst quer über die Kelchöffnung 12½ Zentimeter. Man hat dieses Rhododendron die Königin aller blühenden Sträucher genannt. In Cornwall gedeiht die Art gut, und unter ihren Kreuzungen ist die berühmte »Pink Pearl«.

      Rhododendron falconeri, eine weißblühende Art, ist in Aussehen und Standort für die Eigenart der Gattung besonders bezeichnend: Sie kommt nie unterhalb der Höhe von 3000 Metern vor. Ihre Belaubung ist ohne Vergleich die schönste aller Rhododendronarten. Sie lässt einen Stamm oder auch zwei von etwa 9 Metern Höhe glatt und rein aufschießen; die Äste endigen in ungeheuren Blättern; auf der Oberseite sind sie tiefgrün mit gelbem Rand, auf der Unterseite von bräunlichem Rubinrot. Die sahneweißen Blüten sind lila abgetönt, sie verbreiten einen schwachen Duft. Sie erscheinen in dicht gepackten Büscheln von 23 bis 38 Zentimetern Durchmesser in einer Anzahl von zwanzig und mehr.

      Eine eigentümliche Art ist Rhododendron dalhousiae; sie ist unter allen Rhododendren der einzige Epiphyt, und sie trägt weitaus die größten Blüten. Wie die Orchideen wächst sie zwischen Farnen und Moos auf den Stämmen großer Bäume, insbesondere der Eichen und Magnolien, und erreicht eine Höhe von 1,8 bis 2,4 Metern. Drei bis sieben Blüten bilden eine Dolde; die Blüte misst in der Länge 8¾ bis 12½ Zentimeter und quer über die Blütenöffnung ebenso viel; sie ist weiß, stellenweise rosa getönt und duftet stark. Was Größe, Farbe und Duft anbelangt, ist diese Art die edelste ihrer Gattung. In Cornwall gedeiht sie im Freien, im übrigen England im Kalthaus als kümmerlicher Strauch von 3 bis 3,6 Metern Höhe. Rhododendron barbatum ist ein 12 bis 18 Meter hoher Baum; es trägt Blüten von sattem Scharlach- und Blutrot, manchmal auch violettbraune oder lebhaft rosagefärbte. Es ist eines der schönsten Rhododendren des Himalajas und in England jetzt sehr verbreitet, wo es im Freien gut gedeiht. Eine andere wahrhaft prächtige Pflanze ist Rhododendron maddeni, dessen sehr hübsche reinweiße Blüten 8¾ bis 10 Zentimeter lang und über die Blütenöffnung ebenso breit sind. Es steht in England heutzutage in ganz besonderer Gunst. In großen Büschen gedeiht es in Cornwall im Freien; es besitzt einen ungemein süßen Duft. Rhododendron virgatum ist ein wunderschöner, zartweiß blühender Strauch. Und Rhododendron campylocarpum trägt eine Menge köstlicher blassgelber Blütenglocken von seltenster Feinheit zur Schau.

      Außer Rhododendren treffen wir im Höhersteigen auch Esche, Nussbaum und Ahorn immer zahlreicher an, und bei 2700 Metern zeigt sich die Lärche; es treten auch Wälder mit einer Edeltanne auf, die in ihrer allgemeinen Erscheinung mit der norwegischen Edeltanne Ähnlichkeit hat. Unter den Pflanzen sind Sauerklee, Brombeeren, Haselnuss, Spierstaude und verschiedene südeuropäische und nordamerikanische Gattungen vertreten.

      Die Luft ist nicht mehr erstickend, und die Blutegel sind verschwunden. Wir vermissen so manche Schönheiten des Tropenwaldes. Aber infolge der immer größeren Angleichung der Vegetation an das uns in Europa Gewohnte fühlen wir uns heimischer. Der Pfad windet sich, den wechselnden Formen der Berghänge folgend, durch hübsche, kühle Waldungen. Um uns her bedrückt uns nicht mehr eine Fremdartigkeit des Lebens. Fast an jeder Wegbiegung stoßen wir auf irgendetwas, das uns wohl neu, aber doch nicht völlig fremd ist. Unter den Erinnerungen an dieses Gebiet tritt eine in besonderem Maß hervor, der Anblick einer riesenhaften Lilie, die im Wald 3 Meter hoch in die Luft ragt; in ihrer fleckenlosen Weiße steht sie so rein da, als sei sie in einem Garten gezogen worden. Es ist Lilium giganteum; die Pflanze hat einen Stängel, an dem sie vierzehn Blüten trägt, jede 11¼ Zentimeter lang und ebenso breit.

      Unsere innigste Liebe gehört nach wie vor den weißen Veilchen, die wir als Kinder in einem englischen Wald pflücken; auch diese ragende weiße Lilie wird sie aus unserem Herzen niemals verdrängen. Aber der Anblick der herrlichen Pflanze, wie sie stolz aus dem Grün ihrer Waldumrahmung aufsteigt, wird uns mehr bedeuten, als je ein Bild vermöchte. Und dass sie »wild« wächst, verleiht ihr für uns den gleichen Zauber, den für das Kind eine wild wachsende, nicht im Garten gezogene Blume besitzt. In einem Blumenladen mögen wir vielleicht Lilien sehen von noch größerer Schönheit als selbst diese, aber der Genuss, der uns aus dem Erzeugnis des Blumengärtners erwächst, lässt sich nicht vergleichen mit dem, der uns entspringt aus dem Anblick dieser Lilie im fernen Himalajawald, wohin nicht viele Weiße kommen. Wir machen öfters Erfahrungen, die uns merklich altern lassen. Dies aber ist eine jener Erfahrungen, die uns ganz gewiss verjüngen. Wieder wie einst sind wir Kinder, die im Wald Blumen finden.

      Je höher wir aufwärtssteigen, umso mehr weitet sich das Tal, die Berge treten zurück und sind weniger steil. Sie sind auch schwächer bewaldet, Gras bedeckt häufiger ihre Abhänge, und der Fluss ist keine tobende, reißende Flut mehr, sondern strömt in breitem Bett in mannigfachen Windungen dahin. Die mächtigen Gipfel erheben sich irgendwo dicht in der Nähe, die höchsten sind jedoch nicht zu erblicken, und für den Himalaja ist der Landschaftscharakter etwas zahm. Groß aber ist die Zahl der Kräuter. Ihre vollständige Ausführung würde die meisten der in Europa und Nordamerika verbreiteten Gattungen umfassen. Unter ihnen befinden sich purpurrote, gelbe, rosa und weiße Primeln, goldene Fingerkräuter, Enziane vom tiefsten Azurblau, zarte Anemonen, Ehrenpreis, Schachblume, Sauerklee, Balsaminen und Ranunkeln. Eine ganz besondere Köstlichkeit dieser Gegend ist Rosa macrophylla, eine große, rote Rose, eine der schönsten Himalajapflanzen; ihre ungefüllten Blüten sind von Handtellergröße. Unter diese Pflanzen aus der gemäßigten Zone mischen sich die Ausläufer der tropischen Gattungen – Orchideen, Begonien und andere –, deren Aufstieg in diese hochgelegenen Gebiete von der großen Hitze und Feuchtigkeit des Sommers begünstigt wurde.

      Wir befinden uns jetzt im Gebiet der Primeln, um derentwillen Sikkim neben seinen Orchideen und Rhododendren berühmt ist. In der Tat kann man Sikkim das Hauptquartier der indischen Primeln nennen; es finden sich dort viele Arten, die, wie es scheint, sonst nirgends vorkommen. Es gibt dreißig bis vierzig Arten, von denen die Mehrzahl in Höhen von 3600 bis 4500 Metern gedeiht; nur zwei oder drei finden sich unterhalb von 3000 Metern, zwei oder drei steigen in eine Höhe von 4800 bis 5100 Metern. Am bekanntesten ist Primula sikkimensis, die auch in England gut gedeiht und einer riesenhaften Schlüsselblume ähnlich sieht. Entzücken erfüllt uns beim Anblick ihrer goldfarbenen Blütenmassen an feuchten, sumpfigen Stellen der Hochtäler; der eigentliche Farbton ist eher mit zitronengelb als mit golden zu bezeichnen.

      Das Purpurrot herrscht als Farbe der Primeln vor, aber auch Weiß, Gelb, Blau und Rosa finden sich. Primula denticulata hat Blüten von Purpurrot bis zum lebhaften Saphirblau, und weite Strecken des Landes sind fast durchweg blau durch die lieblichen Blütenkronen dieser Primel. Kilometerweit sieht man das Land buchstäblich bedeckt mit Primula obtusifolia, die purpurrot blüht und stark metallisch riecht. Primula kingii, eine sehr schöne Pflanze, hat Blüten von so tiefem Bordeauxrot, dass sie fast schwarz wirken. Vielleicht die eindrucksvollste aller Primeln ist Primula elwesiana, die große einzelne, abwärts gekehrte purpurfarbene Blüten trägt.

      Auch