keiner. Zum Weinen sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter und drehten unsicher die Finger.
Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein. Sein Leichenbegängnis sehe ich noch heute vor mir. Das ›Bataillon‹ hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie möglich zu gestalten.
Voran ging der Pedell der Universität in vollem Ornat: in den Händen das purpurne Kissenpolster mit der güldenen Kette darauf, und hinter dem Leichenwagen in unabsehbarer Reihe – das ›Bataillon‹, barfuß, schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
Auf seinem Grabe, draußen im Friedhof, steht ein weißer Stein, darein sind drei Figuren gemeißelt: der Heiland, gekreuzigt zwischen zwei Räubern. Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das Denkmal errichtet.
Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen, danach bekommt jeder vom ›Bataillon‹ mittags ›beim Loisitschek‹ umsonst eine Suppe; zu diesem Zwecke hängen hier am Tisch die Löffel an den Ketten, und die ausgehöhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um zwölf Uhr kommt die Kellnerin und spritzt mit einer großen, blechernen Spritze die Brühe hinein, und wenn sich einer nicht ausweisen kann als ›vom Bataillon‹, so zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurück.
Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch die ganze Welt.«
Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie. Die letzten Sätze, die Zwakh gesprochen, wehten über mein Bewußtsein hinweg. Ich sah noch, wie er seine Hände bewegte, um das Vor- und Zurückschieben eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorüber, daß ich in Momenten ganz mich selbst vergaß und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
Das Zimmer war ein einziges Menschengewühl geworden. Oben auf der Estrade: dutzende Herren in schwarzen Fräcken. Weiße Manschetten, blitzende Ringe. Eine Dragoneruniform mit Rittmeisterschnüren. Im Hintergrund ein Damenhut mit lachsfarbigen Straußenfedern. Durch die Stäbe des Geländers stierte das verzerrte Gesicht Loisas hinauf. Ich sah: Er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rücken dicht, ganz dicht an der Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
Die Gestalten hielten plötzlich im Tanzen inne: Der Wirt mußte ihnen etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch, aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fühlte es deutlich. Und doch lag der Ausdruck hämischer wilder Freude in dem Gesicht des Wirtes.
In der Eingangstür steht mit einem Mal der Polizeikommissär in Uniform. Er hat die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter ihm ein Kriminalschutzmann.
»Wird also doch hier getanzt? Trotz des Verbotes? Ich sperre die Spelunke. Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!«
Es klingt wie Kommandos.
Der Vierschrötige gibt keine Antwort, aber das hämische Grinsen bleibt in seinen Zügen.
Bloß starrer ist es geworden.
Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch. Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
Die Gesichter sind plötzlich alle im Profil zu sehen: Sie glotzen erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen herab und geht langsam auf den Kommissär zu.
Die Augen des Kriminalschutzmannes hängen gebannt an den heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben und läßt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück schweifen.
Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich über das Geländer gebeugt und verbeißen das Lachen hinter ihren grauseidenen Taschentüchern.
Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstück ins Auge und spuckt einem Mädchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
Der Polizeikommissär hat sich verfärbt und starrt in der Verlegenheit immerwährend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
Er kann den gleichgültigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten, unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
Die Totenstille im Lokal wird immer quälender.
»So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Händen auf den Steinsärgen liegen in den gotischen Kirchen«, flüstert der Maler Vrieslander mit einem Blick auf den Kavalier.
Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: »Äh – Hm.« Er kopiert die Stimme des Wirtes: »Jä, jä, das sin mir Gästäh – da schaut man.« Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daß die Gläser klirren; die Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand und zerschellt. Der vierschrötige Wirt meckert uns erläuternd und ehrfurchtsvoll zu: »Seine Durchlaucht Exzellenz Fürst Ferri Athenstädt.«
Der Fürst hat dem Beamten eine Visitenkarte hingehalten. Der Ärmste nimmt sie, salutiert wiederholt und schlägt die Hacken zusammen.
Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter geschehen wird.
Der Kavalier spricht wieder:
»Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen – äh – sind meine lieben Gäste.« Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlässigen Armbewegung auf das Gesindel. »Wünschen Sie, Herr Kommissär – äh – vielleicht vorgestellt zu werden?«
Der Kommissär verneint mit erzwungenem Lächeln, stottert verlegen etwas von »leidiger Pflichterfüllung« und rafft sich schließlich zu den Worten auf: »Ich sehe ja, daß es hier anständig zugeht.«
Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: Er eilt in den Hintergrund auf den Damenhut mit der Straußenfeder zu und zerrt im nächsten Augenblick unter dem Jubel der jungen Adligen – Rosina am Arm herunter in den Saal.
Sie schwankt vor Trunkenheit und hält die Augen geschlossen. Der große, kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strümpfe und – einen Herrenfrack auf dem bloßen Körper.
Ein Zeichen: Die Musik fällt ein wie rasend – – –
»Rititit – Rititit« – – – und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als er Rosina gesehen, an der Wand drüben ausgestoßen hat.
Wir wollen gehen. Zwakh ruft nach der Kellnerin.
Der allgemeine Lärm verschlingt seine Worte.
Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
Der Rittmeister hält die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich langsam mit ihr im Takt.
Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
Dann murmelt es von den Bänken: »Der Loisitschek, der Loisitschek«, die Hälse werden lang, und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites, noch seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung – hängt schmachtend an der Brust des Fürsten Athenstädt.
Ein süßlicher Walzer quillt aus der Harfe.
Wilder Ekel vor dem Leben schnürt mir die Kehle zusammen.
Mein Blick sucht voll Angst die Türe: Der Kommissär steht dort abgewendet, um nichts zu sehen, und flüstert hastig mit dem Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt