war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fühlte mich geborgen wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiß.
Ich blickte auf und sah, daß mit einemmal viele Gestalten im Zimmer waren und uns im Kreis umstanden: einige in weißen Sterbegewändern, wie sie die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an den Schuhen – aber Hillel fuhr mir mit der Hand über die Augen, und die Stube war wieder leer.
Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten könne in mein Zimmer.
Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder Träumen war noch Wachen noch Schlafen.
Das Licht hatte ich ausgelöscht, aber trotzdem war alles in der Stube so deutlich, daß ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei fühlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ähnlicher Verfassung befindet.
Nie vorher in meinem Leben wäre ich imstande gewesen, so scharf und präzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchströmte meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih und Glied wie eine Armee, die nur auf meine Befehle wartete.
Ich brauchte bloß zu rufen, und sie traten vor mich und erfüllten, was ich wünschte.
Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu schneiden versucht hatte – ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen zerstörten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtszügen decken wollten, die ich mir vorgestellt –, fiel mir ein, und im Nu sah ich die Lösung vor mir und wußte genau, wie ich den Stichel zu führen hatte, um der Struktur der Masse gerecht zu werden.
Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrücke und Traumgesichter, von denen ich oft nicht gewußt: Waren es Ideen oder Gefühle, sah ich mich jetzt plötzlich als Herr und König im eigenen Reich.
Rechenexempel, die ich früher nur mit Ächzen und auf dem Papier hätte bewältigen können, fügten sich mir mit einemmal im Kopf spielend zum Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten Fähigkeit, das zu sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen, Gegenstände oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch derlei Werkzeuge nicht zu lösen waren – philosophische Probleme und ähnliches –, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehör, wobei die Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers übernahm.
Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloßes Wort an meinem Ohr hatte vorübergehen lassen, stand wertgetränkt bis in die tiefste Faser vor mir; was ich »auswendig« gelernt, »erfaßte« ich mit einem Schlag als mein »Eigen«tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor mir.
Die »hohen« Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrätlich biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab behandelt hatten – demütig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und entschuldigten sich: Sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krücken für – einen noch frecheren Schwindel.
Träumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel gesprochen?
Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
Richtig: Dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich überzeugt hat, daß der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wühlte ich mich wieder in die Kissen.
Und wie ein Spürhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen Rätsel, die mich rings umgaben. Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurückzugelangen, bis zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus, glaubte ich, könnte es mir möglich sein, jenen Teil meines Daseins zu überblicken, der für mich durch eine seltsame Fügung des Schicksals in Finsternis gehüllt lag.
Aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter, als daß ich mich wie einst in dem düsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den Torbogen den Trödlerladen des Aaron Wassertrum unterschied – als ob ich ein Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hätte, immer gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiterzuschürfen in den Schächten der Vergangenheit, da begriff ich plötzlich mit leuchtender Klarheit, daß in meiner Erinnerung wohl die breite Heerstraße der Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig schmaler Fußsteige, die wohl bisher den Hauptpfad ständig begleitet hatten, von mir jedoch nicht beachtet worden waren. »Woher«, schrie es mir fast in die Ohren, »hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben fristest? Wer hat dich Gemmen schneiden gelehrt – und Gravieren und all das andere? Lesen, Schreiben, Sprechen – und Essen – und Gehen, Atmen, Denken und Fühlen?«
Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein Leben zurück.
Ich zwang mich, in verkehrter, aber ununterbrochener Reihenfolge zu überlegen: Was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag vor diesem und so weiter?
Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt – Jetzt! Jetzt! Nur ein kleiner Sprung ins Leere, und der Abgrund, der mich von dem Vergessen trennte, mußte überflogen sein –, da trat ein Bild vor mich, das ich auf der Rückwanderung meiner Gedanken übersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit der Hand über die Augen – genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiterzuforschen.
Nur eins stand fest als bleibender Gewinn – die Erkenntnis: Die Reihe der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind’s, die in die verlorene Heimat zurückführen: Das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht die scheußliche Narbe, die die Raspel des äußeren Lebens hinterläßt, birgt die Lösung der letzten Geheimnisse.
So, wie ich zurückfinden könnte in die Tage meiner Jugend, wenn ich in der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornähme von Z bis A, um dort anzugelangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen – so, begriff ich, müßte ich auch wandern können in die andere, ferne Heimat, die jenseits allen Denkens liegt.
Eine Weltkugel an Arbeit wälzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules trug eine Zeitlang das Gewölbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein, und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: »Laß mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt«, so gäbe es vielleicht einen dunklen Weg – dämmerte mir – von dieser Klippe weg.
Ein tiefer Argwohn, der Führerschaft meiner Gedanken weiter blind zu vertrauen, beschlich mich plötzlich. Ich legte mich gerade und verschloß mit den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne. Um jeden Gedanken zu töten.
Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon mästete sich der nächste an seinem Fleische. Ich flüchtete in den brausenden Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem Fuß; ich verbarg mich im Hämmerwerk meines Herzens: Nur eine kleine Weile, und sie hatten mich entdeckt.
Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte: »Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlüssel zur Kunst des Vergessens gehört unseren Brüdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber bist geschwängert vom Geiste des – Lebens.«
Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mächtig, gleich einem Erdbeben –, der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand über meine Augen, und ich schlummerte ein.