Ludwig Hirschfeld

Wien


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und gebildeter Sie es tun, desto gröber fällt die Antwort aus. Meistens gipfelt Sie in dem wohlmeinenden Rat: »Wann Ihna was net recht is, nehmens Ihna an Auto!«

      »Wie viel Uhr ist es?« Nicht nur die Wiener Menschen, auch die leblosen Wiener Dinge haben ihre Eigentümlichkeiten. In dieser Stadt der kleineren und größeren Ungenauigkeiten haben sich sogar die öffentlichen Uhren dem Rhythmus der Schlamperei angepasst. In Salzburg wussten Sie noch genau, wie viel Uhr es ist, vielleicht noch in St. Pölten, aber in Wien wissen Sie es nach einigen Tagen nicht mehr. So wie die Bevölkerung alles partei- und klassenmäßig beurteilt, sind auch die Uhren hinsichtlich der Zeit, die sie anzuzeigen haben, ganz verschiedener Ansicht. Die einen sind reaktionär und bleiben täglich zurück, die anderen gehen radikal vor. Die Rathausuhr ist anderer Meinung als die bei der Opernkreuzung, und die Kontrolluhren bei den Straßenbahnhaltestellen haben wieder ihre eigene, kommunale Zeit, die aber mit der Rathauszeit nicht übereinstimmt. Verlässlich ist nur die Uraniazeit, aber wer kann immer zur Urania bei der Aspernbrücke fahren. Am schwankendsten ist der Zeitpunkt auf den Wiener Bahnhöfen, wo es oft unten im Vestibül um fünf Minuten später ist als oben in der Abfahrtshalle. Angeblich über höheren amtlichen Auftrag, damit sich die Reisenden unten hetzen und sich dann oben freuen, dass sie noch Zeit haben … So gehört zu den vielen Fragen, auf die Sie im heutigen Wien keine genaue Antwort bekommen, auch die: »Wie viel Uhr ist es?« Aber dafür weiß man wenigstens in den meisten Fällen, wie viel es geschlagen hat.

      »Hallo, ich versteh’ Sie nicht!« Das Wiener Telephon ist nicht schlecht. Auf jeden Fall ist es besser als die Mehrheit der telephonierenden Wiener Menschheit. Fürchterlich rächt sich da unsere Eigenart, dass jeder durchaus nach seiner Fasson unselig und schlampig sein will. Seit dem Übergang zum Millionensystem mit den den Nummern vorangesetzten Buchstaben kennt sich niemand mehr aus. Kein Mensch hält sich an die gedruckten Vorschriften. Der Anrufende stellt sich prinzipiell nicht vor, sondern fragt herausfordernd: »Wer spricht dort?« Und wenn man unschuldigerweise falsch verbunden ist, da kann man die ganze Skala menschlichen Hochmutes und schroffer Geringschätzigkeit kennenlernen. Ganz speziell möchte ich Sie vor dem »Fräulein Momenterl« warnen. Das ist die Telephondame in Banken, größeren Geschäften, Kanzleien, die für jemanden anderen anruft, dessen Namen sie aber um keinen Preis verrät. Sie fragt nur: »Haben Sie die Nr. 92210? Ja? Momenterl!« Worauf sie verschwindet, Sie fünf, zehn Minuten beim Apparat warten lässt, bis Sie wütend auflegen, ohne eine Ahnung zu haben, wer sich hinter dem Pseudonym »Momenterl« eigentlich verbirgt. Eine der merkwürdigsten Erscheinungen der Wiener Literatur ist das Telephonbuch. Im Hotelzimmer, bei öffentlichen Sprechstellen finden Sie meistens eine veraltete Ausgabe. Die großen Hotels scheinen unter schweren Opfern eigens alte Telephonbücher aufzukaufen. Aber die neueste Ausgabe ist auch nicht viel mehr wert. Namentlich das Fachregister ist eine Sehenswürdigkeit. In diesem amtlichen Verzeichnis stehen nämlich nur jene Unternehmungen und Firmen, die ihre Aufnahme bezahlt haben, also ein kleines Vorstadttheater, zwei Kinos, drei Apotheken. Man kriegt hilflose Wutanfälle. In diesem Fachregister fehlt die wichtigste Angabe: dass es nur benutzbar ist, wenn man Lehmanns Wohnungsanzeiger neben sich liegen hat. Es würde mich sehr interessieren, ob Ihnen die genaue Befolgung aller dieser Telephonratschläge irgendwie genützt hat. Vielleicht rufen Sie mich an. Ich werde es also nie erfahren …

      »Ist er ein Jud?« Sie werden sagen: Auch anderswo gibt es Juden. Möglich. Auch anderswo sind die Juden nicht beliebt und es fällt mir auch gar nicht ein, hier plötzlich eine Debatte über die Judenfrage eröffnen zu wollen. Ich möchte Sie nur auf die spezifisch wienerische Judenfrage aufmerksam machen. Sie hat gar nichts mit Politik und Rassenantisemitismus zu tun, denn diese Frage wird hier von allen, ohne Unterschied der Konfession, gestellt, von Hakenkreuzlern wie von Juden: »Ist er ein Jud?« Alle anderen Fragen kommen nachher: Ob der Komponist, der Schriftsteller wirklich Talent hat, ob der berühmte Arzt schon viele Patienten geheilt, der Fußballchampion schon viele Goals geschossen hat. Die primäre Frage lautet: »Ist er ein Jud?« Erst wenn sie beantwortet ist, dann stellt man sich zu der Leistung des Schriftstellers, des Universitätsprofessors entsprechend ein. In jedem Gespräch wird man Ihnen damit aufwarten. Wenn Sie Ihrer Verwunderung Ausdruck geben, dass unser größter Gelehrter, Professor Sigmund Freud, der Schöpfer der Psychoanalyse, ein Mann von europäischer Geltung, noch nicht Ordinarius an der Wiener Universität ist – Antwort: Er ist doch ein Jud.

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       Professor Sigmund Freud

      Es mag auch daran liegen, dass so viele interessante und originelle Köpfe Juden sind: Egon Friedell, der raffiniert gescheite Polyhistor, Philosoph und Amateurschauspieler, Raphael Schermann, der Schriftendeuter. Deshalb gebe ich Ihnen den guten Rat: Seien Sie während Ihres Wiener Aufenthaltes nicht zu interessant und originell, sonst sind Sie hinter Ihrem Rücken plötzlich ein Jud …

      »Der Breitner.« Das ist das Wort, das jetzt am Anfang und am Ende aller Wiener Gespräche und Debatten steht: der Breitner. Breitner ist der Name, den Sie in Wien überhaupt am öftesten hören. Was war die Popularität Girardis, was die Luegers gegen die Unbeliebtheit, deren sich der Stadtrat Breitner, der Finanzreferent der Stadt Wien, in den weitesten Kreisen erfreut. An allen Leiden und Schmerzen dieser Stadt ist er schuld, zu allen Särgen liefert er die Nägel, jeder schlechte Geschäftsgang, jede Misere hat nur ihn zur Ursache. Er ist die große, oft begründete, noch öfter übertriebene Generalausrede für alles, was die Stadt auf ihrem Passionswege vom Inflationsreichtum zur reellen Armut durchmessen muss. Wer ist schuld? Chor: DER BREITNER!

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