Einnahmen haben, bleiben nur drei Möglichkeiten, um die Konsummaschine am Laufen zu halten. Entweder der Staat oder seine Bürger verschulden sich bis über beide Ohren – den ersten Weg sind die Südeuropäer gegangen, den zweiten die Angelsachsen. Oder man zapft die Nachfrage anderer Volkswirtschaften an. Das ist die Strategie der Exportökonomien in Nordeuropa und Ostasien.
Die Suche nach neuen Märkten führt die Exporteure bis in die entlegensten Winkel der Erde. Neue kaufkräftige Kunden finden sich vor allem in den schnell wachsenden Mittelschichten Asiens. Die Attraktivität dieser Märkte hat die billigen Arbeitskosten längst als wichtigstes Motiv der Globalisierung abgelöst.
Aber auch die Strategie, neue Märkte rund um den Globus zu erschließen, stößt nun an ihre Grenzen. Schon seit Längerem deutet sich an, dass die Globalisierung ihren Höhepunkt überschritten haben könnte10. Seit der Finanzkrise 2008 geht es mit dem globalen Handel und grenzüberschreitenden Investitionen nicht mehr so richtig aufwärts. Hinter diesem Trend zur Deglobalisierung stehen handfeste geopolitische Gründe.
Lange hing der Westen der Hoffnung an, Handel werde zu Wandel in Peking führen. China hat jedoch sein Versprechen, den eigenen Markt für Wettbewerber zu öffnen, nicht eingelöst. Pekings merkantilistische Industriepolitik zielt ganz offen auf die Dominanz Chinas in den Hochtechnologien der Zukunft.
Der Technologiewettbewerb verschärft den Hegemoniekonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China. In Washington besteht ein parteiübergreifender Konsens, die amerikanische von der chinesischen Volkswirtschaft zu entkoppeln, um den Konkurrenten um die globale Vorherrschaft nicht noch weiter zu stärken.
Die Trump-Regierung versuchte daher mit Zöllen, Exportverboten, akademischen Kooperationssperren, Chinas Entwicklung zu verlangsamen. Um die unwilligen Europäer auf Linie zu bringen, wurden sämtliche Machthebel, von Exportkontrollen für Spitzentechnologien bis zur Drohung mit der Aussetzung von Geheimdienstkooperationen, in Bewegung gesetzt. Einen Vorgeschmack darauf, wie groß der amerikanische Druck auf die Verbündeten sein kann, haben die Europäer in der Auseinandersetzung um den Ausschluss des chinesischen Technologiekonzerns Huawei vom Aufbau der 5G-Infrastruktur bekommen. Eine Biden-Regierung dürfte zwar versuchen, das Verhältnis zu den Verbündeten zu reparieren. In der Substanz wird sich aber an dem mit harten Bandagen geführten Konkurrenzkampf mit China wenig ändern.
Die Coronakrise hat nun auch in Europa das Bewusstsein für die Verwundbarkeit globaler Lieferketten geschärft. Auch wenn die Europäer bisher nicht bereit sind, sich von China zu entkoppeln, dürften sie dennoch ihre Lieferketten weiter diversifizieren und Pufferkapazitäten schaffen, um einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren und die Volkswirtschaften krisenfester zu machen11.
Die Welt, die aus den Trümmern der Hyperglobalisierung entsteht, könnte in rivalisierende Blöcke zerfallen. Damit ist nicht der Rückfall in die Mentalität des Kalten Krieges mit seinen Eisernen Vorhängen zwischen ideologischen Systemrivalen gemeint. Die Weltwirtschaft wird weiter vernetzt bleiben. Wohl aber könnten sich Volkswirtschaften unter der Führung eines regionalen Hegemons zusammenschließen, um sich unliebsame Konkurrenten durch inkompatible Normen und Standards, Technologieplattformen und Kommunikationssysteme, Marktzugangsschranken und Infrastruktursysteme vom Hals zu halten. Wahrscheinlichstes Ergebnis der Deglobalisierungstendenzen ist nicht der Rückfall in nationalstaatliche Autarkie, sondern die Regionalisierung von Lieferketten und Märkten.
Aber auch geoökonomische Gründe sprechen dafür, dass sich die neuen Absatzmärkte wieder verschließen. In den Schwellenländern führt die Automatisierung zu beschäftigungslosem Wachstum. In den Fabriken, in denen vor einigen Jahrzehnten noch Zehntausende Arbeiter schufteten, stehen heute nur noch Roboter. Bevölkerungsgiganten wie Indien, Bangladesch, Indonesien oder Vietnam sehen sich daher mit der Mammutaufgabe konfrontiert, Millionen neue Jobs für den auf die Arbeitsmärkte strömenden Nachwuchs zu schaffen. Die digitalen Plattformen der Gig Economy, über die Aufträge an unabhängige Freiberufler vergeben werden, verschaffen den gut Ausgebildeten zwar Zugang zu den globalen Dienstleistungsmärkten, doch die Bedingungen dieser Jobs sind schlecht, und in der Summe sind sie bei Weitem nicht genug, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten.
Die Automatisierung der Produktion in den alten Industrieländern untergräbt zudem rasch den komparativen Kostenvorteil der späten Industrialisierer. Entnervt von langen Lieferketten, lokaler Korruption, politischer Einmischung, Industriespionage und schlechten Produktionsbedingungen haben bereits die ersten Hersteller damit begonnen, ihre Fertigung näher an ihre Heimatmärkte zu verlegen. In den großen Schwellenländern mag die Notwendigkeit, im Markt präsent zu sein, diesen Rückverlagerungstendenzen zwar entgegenstehen. In den kleineren Ländern verliert jedoch die Arbeitskostenersparnis, immerhin das zentrale Motiv des ersten Globalisierungsschubes, im Kalkül der Investoren an Bedeutung.
Umgekehrt verschließen sich die westlichen Absatzmärkte für die exportstarken Schwellenländer. Mit der Aufgabe des Transpazifischen Partnerschaftsabkommen hatte der America-First-Protektionist im Weißen Haus ein klares Signal gesendet, dass er den Zugang zum amerikanischen Markt nicht nur für China, sondern für alle asiatischen Exporteure beschränken will. Eine Biden-Regierung könnte sich zwar offener gegenüber den Bedürfnissen der Verbündeten zeigen. Aber auch ein demokratischer Präsident muss den großen Unmut vieler Amerikaner über den Freihandel berücksichtigen. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass die Amerikaner wieder ihre ehemalige Rolle als Konsumlokomotive der Welt einnehmen werden.
Schon in der letzten Krise ist der deutsche Versuch, sich aus der Rezession »herauszuexportieren«, an seine Grenzen gestoßen. Nicht nur die Vereinigten Staaten, auch Frankreich und die Südeuropäer reiben sich zunehmend an den deutschen Exportüberschüssen. Setzen sich die protektionistischen Tendenzen in den Absatzländern fort, muss Deutschland sein Wirtschaftsmodell überdenken.
Für die Schwellenländer ist das Versprechen westlicher Populisten, die Produktion nach Hause zu bringen, bedrohlich. Werden die globalen Lieferketten rückabgewickelt, steht ihr ganzes Entwicklungsmodell infrage. Verschließen sich die westlichen Märkte für die Schwellenländer, werden ihre heimischen Märkte überlebensnotwendig. Länder mit großen Binnenmärkten wie China oder Indien haben bereits damit begonnen, ihre Entwicklungsmodelle von der Exportabhängigkeit auf den heimischen Konsum umzustellen. Mit offenen oder versteckten Marktzugangsschranken versuchen sie, internationale Konkurrenz zu verdrängen.
Die Logik der Abschottung wirkt also in beide Richtungen. Je weiter sich die Volkswirtschaften des Westens abriegeln, desto mehr Zugangsbeschränkungen werden westliche Unternehmen auf den asiatischen Märkten vorfinden. Die Strategie, die Absatzschwäche auf den heimischen Märkten durch die Erschließung neuer Kunden in den Schwellenmärkten zu kompensieren, stößt damit an ihre Grenzen.
Kapitel 4
Finanzkrisen ruinieren Wirtschaft und Staat
Auch die Strategie, fehlende Nachfrage über Schulden aus der Zukunft zu borgen, ist nicht ohne Risiken. In der letzten Finanzkrise zeigte sich die Verletzlichkeit des über Privatschulden finanzierten Wachstums. Bereits die Zahlungsschwierigkeiten einiger weniger Schuldner lösten damals eine Kettenreaktion aus, die um ein Haar zum Infarkt des globalen Finanzsystems geführt hätte.
Jedem privaten oder öffentlichen Schuldner entspricht ein Gläubiger. Und so sind heute Anleger mit Unsummen von Kapital rund um den Globus auf der Suche nach attraktiven Anlagemöglichkeiten. Die düsteren Gewinnaussichten schrecken sie oft von Investitionen in die Realwirtschaften ab. Viele Kapitaleigner versuchen, die Flaute auszusitzen, indem sie ihr Geld an den Finanzmärkten parken. Dem Investitionsstau in der Realwirtschaft entspricht daher die Investitionsexplosion an den Börsen.
Politökonomisch ist der Finanzkapitalismus ein Teufelskreis. Eine winzige Elite von Kapitaleignern schöpft die Gewinne der wirtschaftlichen Tätigkeiten ab. Statt sie jedoch erneut in die Realwirtschaft zu investieren, spekulieren die Superreichen damit in den Casinos der Finanzmärkte. Wenn das Geld jedoch nur zum Zocken verwendet wird, gewinnt ein Spieler, was der andere verliert. Geschaffen wird nur Buchgeld, aber weder Innovation noch produktivitätsgetriebenes Wachstum der Realwirtschaft. Im Gegenteil: Wird das