Viola Maybach

Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman


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      »Und hier, im Hotel?«, fragte er. »Was machst du denn abends immer, hockst du jeden Abend allein in deinem Zimmer?«

      »Natürlich, was dachtest du denn? Ich bin sogar vorsichtig geworden mit Anrufen bei meinem Sohn, weil ich immer Angst habe, sie könnten ihn finden.«

      Corinnas Sohn Sebastian, dessen Vater angeblich Fürst Leopold von Sternberg war, befand sich im Süden der USA, wo er sich für ein Jahr als Austauschschüler aufhielt. Sie hatte alles selbst organisiert, um sicherzustellen, dass er nicht so leicht gefunden werden konnte. Mittlerweile hatte sie ihm alles gesagt, aber bei seiner Abreise einige Monate zuvor war er vollkommen ahnungslos gewesen. Er war ein Einzelgänger, hochbegabt, weshalb sie auch fand, dass er unbedingt gefördert werden musste. Sie war oft unglücklich darüber gewesen, dass er fast immer allein war, jetzt erwies es sich als Vorteil. Hätte er ständig mit Freunden kommuniziert, wäre sein Aufenthaltsort längst bekannt geworden.

      »Sie finden ihn sowieso, Corinna, das ist doch nur eine Frage der Zeit.«

      »Ja, kann sein«, sagte sie. »Ich danke dir für dein Angebot, Patrick, aber heute wäre ich keine angenehme Gesellschaft, glaube ich. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Vielleicht verliere ich einfach allmählich den Mut.«

      »Dafür gibt es doch gar keinen Grund!«, wunderte er sich. »Im Gegenteil, seit du Ferdinand von Stade dieses Interview gegeben hast, sind mehr Menschen davon überzeugt, dass du die Wahrheit sagst als davon, dass du Lügen erzählst.«

      »Und was hilft mir das?«, fragte sie. »Gar nichts. Ich brauche Geld, wenn mein Sohn eine gute Ausbildung bekommen soll, die seinen Begabungen entspricht. Geld, das ich nicht habe. Bis diese Auseinandersetzungen mit den Sternbergern geklärt sind, ist der Zug für Sebastian abgefahren. Er braucht die Förderung jetzt, nicht erst in fünf Jahren.«

      Eins der Telefone klingelte. Sie lächelte Patrick entschuldigend an und meldete sich.

      Als er merkte, dass das Gespräch sich länger hinziehen würde, verließ er das Büro. Er hätte Corinna gern geholfen, denn er hatte sie sehr gern, aber offenbar konnte er nichts für sie tun.

      *

      »Ich darf gar nicht dran denken, dass du ab übermorgen weg bist«, seufzte Anna von Kant, als sie einige Tage später gemeinsam mit ihrem Cousin Christian von Sternberg den Schulhof verließ. Vor der Schule wartete die Sternberger Limousine, die sie zurück ins Schloss bringen würde. Die Zeiten, da sie den Schulbus genommen hatten, waren erst einmal vorbei, da sie schon mehrmals von Reportern belästigt worden waren. Zwar traute sich niemand, Fotos von ihnen zu veröffentlichen, aber ein paar Antworten auf ihre schnell hingeworfenen Fragen hätten die Journalisten schon gern gehabt, und sie waren nicht zimperlich in ihren Methoden. Baronin Sofia und Baron Friedrich hatten jedenfalls beschlossen, die Teenager diesen Belästigungen nicht mehr auszusetzen.

      Annas Bruder Konrad hatte heute früher Schulschluss gehabt, er war von Per Wiedemann bereits vor einer Stunde abgeholt worden. »Wie war Ihr Schultag, Baronin Anna und Prinz Christian?«, fragte der Chauffeur zur Begrüßung.

      »Ging so, Herr Wiedemann«, antwortete Anna, als sie sich auf die Rückbank fallen ließ. »Wir haben einen Test in Englisch geschrieben, ich glaube, ich habe nicht gut abgeschnitten.«

      »Bei mir war es gut«, sagte Christian. »Wir bereiten ja unsere Klassenfahrt vor, das macht Spaß. Im Kellerwald soll es sogar noch Reste von Urwäldern geben, und wir werden fünf Tage lang unterwegs sein. Jede Nacht schlafen wir woanders, unser Gepäck wird mit einem Bus befördert.«

      »Das wird bestimmt ein schönes Erlebnis, Prinz Christian«, erwiderte Per Wiedemann.

      Der kleine Fürst nickte, aber unvermittelt glitt ein Schatten über sein Gesicht. Anna, die das bemerkte, wusste sofort, woran ihr Cousin dachte. Schon als kleine Kinder hatten sie sich gut verstanden, doch seit dem Tod von Christians Eltern war ihr Verhältnis noch inniger geworden. Sie waren nicht nur Verwandte, sondern auch eng miteinander befreundet, so wie es ihre beiden Mütter gewesen waren, bis der Tod sie jäh auseinandergerissen hatte.

      Anna griff nach Christians Hand und drückte sie. Er besuchte die Gruft, in der seine Eltern die letzte Ruhe gefunden hatten, jeden Tag. In Gedanken sprach er mit ihnen, erzählte ihnen, was ihm durch den Kopf ging und was er erlebt hatte. Auf diese Weise hielt er nicht nur die Erinnerung an seine Eltern lebendig, seine stummen Gespräche mit ihnen halfen ihm auch, ihren viel zu frühen, schrecklichen Tod zu verarbeiten. Wenn er auf Klassenfahrt war, konnte er den Familienfriedhof, der sich am Rande des Sternberger Schlossparks auf einem Hügel befand, nicht besuchen, und das machte ihm zu schaffen.

      »Ich gehe hin, mit Togo, jeden Tag«, versprach Anna.

      Togo war Christians junger Boxer, Annas Eltern hatten ihm das Tier kurz nach dem Tod seiner Eltern geschenkt, und dieses Geschenk hatte sich als Segen erwiesen. Zwischen Togo und dem kleinen Fürsten war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

      »Danke«, erwiderte Christian leise.

      Gleich darauf hielt die Limousine auch schon vor dem Hauptportal des Schlosses, das im selben Moment von innen geöffnet wurde. Eberhard Hagedorn, der alte Butler, der schon so lange im Schloss Dienst tat, dass er schlichtweg zu Sternberg gehört, erschien und begrüßte die beiden Teenager mit seinem zurückhaltenden Lächeln. Er teilte so manches Geheimnis mit ihnen, das sie bei ihm sicher verwahrt wussten. Zugleich war er eine Respektsperson, sein Wort hatte Gewicht. Und auch in diesem Fall war tiefe Zuneigung im Spiel, auf beiden Seiten.

      »Hallo, Herr Hagedorn!«, sagte Anna, bevor der Butler das Wort an sie richten konnte. »Fragen Sie lieber nicht, mein Test war mies.«

      »Vielleicht haben Sie die Aufgaben für Englisch in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt, Baronin Anna?«, fragte Eberhard Hagedorn.

      »Nicht so laut!«, bat sie. »Sonst regt Mama sich gleich wieder auf. Ich mache es beim nächsten Mal besser.«

      »Mein Tag war angenehm«, berichtete Christian. »Wo ist denn Togo?«

      Kaum hatte er die Frage gestellt, als der Boxer auch schon die Treppe heruntergeschossen kam. Winselnd und bellend umkreiste er die Teenager. »Ist ja gut, Togo«, sagte der kleine Fürst, während er dem Tier den Kopf kraulte. »Wir gehen ja gleich.«

      »Es treiben sich offenbar wieder Reporter auf dem Gelände herum, Prinz Christian«, sagte Eberhard Hagedorn. »Der Wachdienst hat uns informiert. Sie bemühen sich, die Leute zu vertreiben, aber das kann dauern, außerdem ist nicht bekannt, wie viele es sind.«

      »Wir gehen trotzdem«, sagte Christian. »Kommst du mit, Anna?«

      Das Mädchen nickte, und im selben Moment ließ sich von oben Annas Bruder Konrad vernehmen: »Ich komme auch mit.«

      Gleich darauf verließen die drei Teenager das Schloss. Mit einem unhörbaren Seufzer sah Eberhard Hagedorn ihnen nach, wie sie auf den Schlosspark zuliefen. Ob auf Sternberg jemals wieder Frieden herrschen würde? Er hoffte es von ganzem Herzen.

      Mit langsamen Schritten ging er auf die Küche zu, wo die begabte junge Köchin Marie-Luise Falkner ihn mit einem Lächeln und einem Espresso empfing. »Ich dachte schon, Sie kämen überhaupt nicht mehr, Herr Hagedorn.«

      »Dabei wissen Sie ganz genau, dass ich Ihrem Espresso nicht widerstehen kann, Marie.«

      Sie schob ihm die Tasse hin und fragte leise: »Gibt es Neuigkeiten?«

      Er schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich wünschte, ich können Ihnen sagen: ›Es hat sich ein Beweis dafür gefunden, dass diese Frau Roeder lügt, der Albtraum hat ein Ende‹, aber so ist es nicht.«

      »Furchtbar«, murmelte Marie-Luise Falkner. »Furchtbar für Prinz Christian, für die ganze Familie, für uns alle.«

      Eberhard Hagedorn nickte nur. Dem war nichts hinzuzufügen.

      *

      »Chris«, sagte der Baron erstaunt, als sein Neffe die Bürotür öffnete.

      »Störe ich dich, Onkel Fritz?«, fragte der Junge.