Viola Maybach

Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman


Скачать книгу

hatte seine Eltern verloren, aber einsam wie Manuel war er nicht.

      »Ich verstehe, dass du sie vermisst«, sagte er. »Ich besuche meine Eltern jeden Tag, auf unserem Friedhof im Park. Es tut mir gut, mit ihnen zu reden.«

      »Zu reden?«, fragte Manuel.

      »In Gedanken. Ich glaube, sie können mich hören. Jedenfalls fühle ich mich besser, wenn ich bei ihnen war.«

      Manuel sagte leise: »Ich werde das auch mal probieren, wenn wir wieder zurück sind. Es gibt so viel, was ich den beiden unbedingt erzählen muss.«

      »So geht es mir auch immer.«

      Danach schwiegen sie, bis Herr Hartkamp, einer ihrer Lehrer, ankündigte, dass sie sich ihrem Ziel näherten. »Eine halbe Stunde noch, dann erreichen wir Waldeck. Diejenigen, die geschlafen haben, sollten also allmählich wach werden.«

      »Wollen wir zusammen auf ein Zimmer gehen?«, fragte Christian.

      Manuels Gesicht leuchtete auf. »Sehr gern«, antwortete er.

      *

      »Sie waren sicher erstaunt über meinen Anruf«, sagte Baron Friedrich zu dem jungen Mann, mit dem er einen Gang durch den Schlosspark machte.

      »In der Tat«, antwortete Ferdinand von Stade. »Sie haben sich also entschlossen, mir ein Interview zu gewähren?«

      »Ich nicht«, erklärte der Baron. »Aber Christian. Er ist jetzt unterwegs auf Klassenfahrt, aber sobald er zurück ist, möchte er mit Ihnen sprechen. Wenn ich ehrlich sein soll: Wir haben versucht, ihm das auszureden, aber es ist uns nicht gelungen. Er hat den Eindruck, dass er seinem Vater etwas schuldig ist und dass es nicht reicht, wenn wir die Sache, wie bisher, großenteils unseren Anwälten überlassen.«

      »Er scheint ein sehr beeindruckender Junge zu sein«, erwiderte Ferdinand von Stade.

      »Ja, das ist er ohne Zweifel, und wir machen uns große Sorgen um ihn, wie Sie sich vorstellen können.«

      »Herr von Kant, wenn ich ihn interviewe, werde ich ihn behandeln wie jeden anderen auch. Falls Sie von mir eine Sonderbehandlung verlangen, werde ich das Interview nicht führen.«

      »Sonderbehandlung? Was meinen Sie denn damit?«

      »Dass ich ihn schone, ihm bestimmte Fragen nicht stelle, um ihn nicht zu verletzen. Das geht nicht. Ich bin Journalist, ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet. Sie wissen, dass ich eher der Ansicht zuneige, dass Corinna Roeder die Wahrheit sagt. Nichts, was sie bis jetzt gesagt oder getan hat, deutet darauf hin, dass sie lügt. Es gibt in ihrer Geschichte keine einzige Schwachstelle.«

      »Die gibt es bei uns auch nicht«, entgegnete der Baron erregt. »Niemand, der Leo kannte, glaubt an seine Schuld.«

      »Nur dass die meisten Menschen ihn nicht kannten«, erwiderte Ferdinand von Stade nüchtern. »Außerdem wissen Sie selbst, wie oft wir uns von Menschen täuschen lassen, auch wenn sie uns nahe stehen.«

      »Es kann auch sein, dass Sie sich von Corinna Roeder täuschen lassen.«

      »Selbstverständlich kann das sein, ich würde das niemals leugnen. Und glauben Sie mir, beim ersten Hinweis darauf würde ich nicht zögern, das auch zu schreiben. Ich habe mich nicht für alle Zeiten auf eine Meinung fest­gelegt, es ist nur so, dass ich im ­Augenblick ihre Version der Ereignisse­ überzeugender finde.«

      »Als wir schon einmal miteinander sprachen, haben Sie uns geraten, mit einem Interview noch zu warten, damit es nicht so aussähe, als hätte uns Frau Roeder unter Zugzwang gesetzt. Das haben wir Ihnen hoch angerechnet, denn es war ja zu Ihrem Schaden.«

      Der junge Journalist schüttelte lächelnd den Kopf. »War es nicht, sonst wäre ich ja jetzt nicht hier.«

      »Denken Sie, der Zeitpunkt jetzt wäre günstig für ein Interview? Aus unserer Sicht, meine ich.«

      Ein nachdenklicher Blick traf ihn. »Schwer zu sagen. Wissen Sie, das ist auch für mich keine einfache Situation. Die Frau, die ich liebe, ist mit Ihnen befreundet. Ich könnte jetzt so tun, als beeinflusste mich das überhaupt nicht, das wäre aber gelogen. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich Frau Roeder sympathisch finde, aber das Gleiche gilt auch für Prinz Christian und Sie alle. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht verstricke, dass ich meine privaten Gefühle sauber trenne von dem, was ich bei meinen Nachforschungen herausfinde. Es ist ein Balanceakt. Aber bei nüchterner Betrachtung muss ich sagen, dass es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt für ein Interview mit dem kleinen Fürsten gibt als jetzt, weil Sie nämlich mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Leute sind mittlerweile mehrheitlich auf Corinna Roeders Seite, und das hat auch damit zu tun, dass sie es verstanden hat, Mitgefühl für ihre Situation zu wecken.«

      »Bisher war es immer Christian, dem das Mitgefühl der Bevölkerung galt«, murmelte der Baron.

      »Daran hat sich sicher nichts geändert, aber in dieser Geschichte geht es ja nicht in erster Linie um ihn, sondern um seinen Vater«, gab Ferdinand zu bedenken.

      »Noch einmal zurück zu dem Interview. Sie werden ihn nicht schonen, aber Sie werden ihm auch keine Fallen stellen?«

      »Ich stelle niemals Fallen«, antwortete Ferdinand von Stade ruhig. »Das habe ich nicht nötig, Herr von Kant. Und ich käme im Traum nicht auf die Idee, mit einem traumatisierten Fünfzehnjährigen unlautere Spielchen zu treiben, das sollten Sie eigentlich wissen.«

      »Entschuldigen Sie bitte«, bat der Baron. »Aber wir machen uns Sorgen, das verstehen Sie sicher.«

      »Sie haben auch Grund, sich Sorgen zu machen«, stellte der junge Journalist fest, »aber nicht um meine Fairness.«

      »Gut, dann gilt es also hiermit als abgemacht, dass Sie Christian nach seiner Rückkehr interviewen?«

      »Ich fühle mich geehrt, dass die Wahl auf mich gefallen ist.«

      Langsam gingen sie zurück zum Schloss, wobei sie kein Wort mehr über das Interview verloren. Friedrich erkundigte sich nach Franziska von Severn, Ferdinand bewunderte die Schönheit des Schlosses und seiner Anlagen. Als der Baron ihm anbot, ihn noch durch die Stallungen zu führen, schließlich züchtete er ja sehr erfolgreich Pferde, nahm sein Besucher das Angebot gerne an.

      Als er sich später verabschiedete, dachten beide Männer, ohne es zu ahnen, das Gleiche: Unter anderen Umständen hätten sie Freunde werden können.

      *

      Caroline stellte sich den Jugendlichen, mit denen sie die nächsten Tage zusammen sein würde, am nächsten Morgen nur mit dem Vornamen vor, das hatte sich in der Vergangenheit bewährt, deshalb blieb sie dabei. Sie hatten sich auf dem Schloss-Parkplatz von Waldeck getroffen.

      »Mein Name ist Caroline«, sagte sie, »und da man sich beim Wandern duzt, biete ich euch also hiermit das Du an. Eure Namen werde ich hoffentlich schnell lernen, ich habe Übung darin. Wir steigen heute mit einer leichten Tour ein, damit ihr euch langsam daran gewöhnen könnt, in den nächsten Tagen ständig auf den Beinen zu sein. Für Stubenhocker ist das anstrengend, aber zum Glück seht ihr ja alle ziemlich fit aus.«

      Gelächter antwortete ihr. »Wir sehen nur so aus«, rief ein großer, kräftiger Junge, »das wirst du schon merken.«

      »Ich hoffe doch, dass ihr mich positiv überrascht«, entgegnete Caroline. Sie ließ den Blick über die vierundzwanzig jungen Gesichter gleiten. Den kleinen Fürsten hatte sie sofort erkannt, sie hatte ja schon verschiedentlich Fotos von ihm gesehen. Ein hübscher Junge, ziemlich lang aufgeschossen, sehr schmal, mit einem gut geschnittenen Gesicht und dunklen Haaren. Ein wenig zu ernst sah er aus, ansonsten konnte sie nichts Außergewöhnliches an ihm feststellen. Er stand neben einem Jungen, der fast einen Kopf kleiner war als er, mit einem sympathischen, sommersprossigen Gesicht. Die beiden schienen Freunde zu sein.

      Die Lehrer hießen Holger Hartkamp und Martina Früh, sie hielten sich zurück und schienen froh zu sein, dass sie ihr die Führung überlassen konnten. Sie machten beide einen sympathischen Eindruck, Caroline nahm nicht an, dass es Schwierigkeiten mit ihnen geben würde.

      »Wenn