die denn dann?«, fragte ein Mädchen.
»Vier Stunden«, antwortete Caroline.
Dass ihr darauf lautes Stöhnen antworten würde, hatte sie erwartet, denn so war es immer. Sie lachte nur. »Übermorgen sind wir dann schon den ganzen Tag unterwegs«, sagte sie, »richtet euch also innerlich darauf ein. Insgesamt wandern wir 68 Kilometer, so lang ist nämlich die Hauptroute des Urwaldsteigs.«
Das Stöhnen war bei der Erwähnung der Gesamtlänge ihrer Route noch lauter geworden. Amüsiert wartete sie, bis sich die Aufregung gelegt hatte, bevor sie fortfuhr: »Ich hoffe, ihr habt alle passende Schuhe an, denn das ist das Wichtigste. Mit Blasen wird jede Wanderung zur Tortur.« Natürlich wusste sie, dass mindestens ein Drittel der Jugendlichen völlig ungeeignetes Schuhwerk trug, auch das war wie immer. Sie hatte stets einen gut bestückten Verbandskasten in ihrem Rucksack, und sie wusste, dass sie ihn brauchen würde. Nicht alle fünfundzwanzig würden bis zum Ende durchhalten, sie hatte ihre Erfahrungen.
»Wenn ihr keine weiteren Fragen habt, sollten wir uns auf den Weg machen. Wir wandern zuerst an den Ruinen der Schlossmauer entlang, von dort aus habt ihr einen sehr schönen Blick über den Edersee. Kurz darauf geht es dann ab in den Wald. Heute Abend übrigens essen wir gemeinsam in eurer neuen Unterkunft. Es soll gegrillt werden, habe ich gehört, weil das Wetter stabil ist, kann man das auch um diese Jahreszeit noch machen.«
Die Gesichter hellten sich bei dieser Aussicht ein wenig auf. »Wo übernachten wir denn überhaupt?«, fragte ein Junge.
»Überraschung«, antwortete Caroline. »Und auf geht’s.«
Sie setzte sich in Bewegung und lief los. Schon bald waren zwei Mädchen neben ihr, Lili und Maike, die ihr von der vergangenen Nacht erzählten und wie aufregend sie es fanden, die nächsten Tage praktisch nur im Wald zu verbringen.
Die beiden waren nett, und vorübergehend vergaß Caroline, dass sich in dieser Gruppe ein Junge befand, der ihr Probleme bereiten konnte. Journalisten hatte sie jedenfalls nirgendwo lauern sehen, und auch sonst war ihr nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Vielleicht hatte sie Glück, und alles ging gut.
*
»Heute Abend?«, fragte Patrick Herrndorf überrascht. »Ja, natürlich, gern. Aber du musst dich nicht verpflichtet fühlen, nur weil ich das neulich vorgeschlagen habe.«
»Ich möchte wirklich gern ein Glas Wein mit dir trinken«, versicherte Corinna Roeder, »wenn du bereit bist, mich in meinem Zimmer hier im Hotel zu besuchen.«
»Natürlich bin ich bereit. Meidest du die Öffentlichkeit denn immer noch? Eigentlich sieht doch alles gut aus für dich, oder?«
»Es sieht schon die ganze Zeit gut aus«, erwiderte sie mit einem etwas müden Lächeln, »aber wir kommen trotzdem nicht richtig voran. Ich hab’s dir ja neulich schon gesagt: Alles, was ich vorlege als Beweis für meine Beziehung mit Fürst Leo, zweifelt seine Familie an. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass sie es so weit kommen lassen.«
»Es ist ja auch dumm«, fand Patrick. »Wären sie auf deine Forderung eingegangen, deinem Sohn eine angemessene Ausbildung zu bezahlen, hätte die Öffentlichkeit doch niemals von der ganzen Geschichte erfahren, und alles wäre gut gewesen.«
»So war es zumindest von meiner Seite aus gedacht«, seufzte sie.
»Du siehst müde aus, blass und müde.«
»Wundert dich das?« Ihr Lächeln war bitter. »Seit ich den Brief geschrieben habe, lebe ich praktisch wie eine Gefangene. Sogar den Sport habe ich aufgegeben. Am Anfang habe ich mich ja immer noch verkleidet in mein Fitness-Studio geschlichen, aber das mache ich jetzt auch nicht mehr, denn selbst dahin sind mir die Reporter gefolgt.«
»Es tut mir leid, dass du es zurzeit so schwer hast«, sagte Patrick unbeholfen. »Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun als dir ab und zu einen Kaffee zu bringen und mit dir zu reden.«
»Du tust genug, Patrick, und alle anderen sind auch sehr nett zu mir, wirklich.«
Er wusste, dass das stimmte, er wusste aber auch, warum das so war. Vor der ›Affäre‹ war Corinna von einigen Kolleginnen durchaus angefeindet worden, weil sie wegen ihrer Attraktivität bei den männlichen Gästen ungeheuer beliebt war. Jetzt jedoch, da das Hotel auch dank Corinnas Geschichte Zulauf hatte wie nie, wagte niemand, ein böses Wort über sie zu sagen. Sie stand gewissermaßen unter dem besonderen Schutz der Geschäftsleitung, und mit dem Chef wollte es sich natürlich niemand verderben.
»Die Arbeit ist im Augenblick das Einzige, was mir hilft, das alles durchzustehen«, sagte sie.
»Und dein Sohn?«
»Der ist so erfüllt von seinem neuen Leben in den USA, dass ihn die ganze Aufregung hier nicht sonderlich berührt.«
»Auch nicht, dass sein Vater ein Fürst ist?«, fragte Patrick erstaunt.
»Das ist für ihn viel zu unwirklich, nicht richtig greifbar. Leo ist tot, er wird ihn niemals kennen lernen, und an seinem Leben wird sich auch nichts ändern. Es spielt für ihn eigentlich keine Rolle.«
»Wenn ihr Geld bekämt, sodass er an eine amerikanische Elite-Universität gehen könnte, würde das schon etwas ändern, oder?«
»Wenn«, sagte sie müde. »Das war ja der Grund, weshalb ich das alles überhaupt gemacht habe. Aber wenn sich die Sache weiterhin so zäh entwickelt, bekomme ich das Geld erst, wenn er seine Ausbildung längst beendet hat.«
»Nicht den Mut verlieren, Corinna«, sagte Patrick. »Wir sehen uns heute Abend. Wann soll ich denn kommen?«
»Gegen sieben?«
»Wir bestellen Essen beim Zimmerservice, ja? Ich lade dich dazu ein.«
»Bist du verrückt? Weißt du, was das kostet?«
»Es ist ein besonderer Tag, und ich habe in letzter Zeit sehr, sehr sparsam gelebt.«
An der Tür lächelte er ihr noch einmal zu, dann verließ er ihr Büro, um an die Rezeption zurückzukehren.
*
»Ich komme mit, in Ordnung?«, sagte Konrad zu seiner Schwester Anna, als sie sich anschickte, gemeinsam mit Togo zum Hügel zu gehen. Sie wollte das Versprechen einhalten, das sie Christian gegeben hatte, und seine Eltern besuchen.
»Ja, klar«, antwortete sie erfreut.
Konrad und sie waren nicht immer gut miteinander ausgekommen. Früher hatten sie oft gestritten, Konrad hatte sich einen Spaß daraus gemacht, seine temperamentvolle jüngere Schwester so lange zu reizen, bis sie wie ein Dampfkessel explodiert war. Außerdem hatte es ihm eine Zeit lang gefallen, Anna und Christian zu behandeln, als wären sie noch Kinder, während er, der Sechzehnjährige, sich selbstverständlich schon den Erwachsenen zurechnete. All das war in den vergangenen Monaten ohnehin besser geworden und hatte sich, seit Corinna Roeder ihren folgenreichen Brief geschrieben hatte, vollkommen verloren. Plötzlich stand Konrad nicht mehr abseits, wenn Anna und Christian sich miteinander berieten, sondern er gehörte dazu, sagte seine Meinung, machte wie sie Pläne zur Bewältigung der derzeitigen Situation.
»Was denkst du«, fragte Anna, während sie den Schlosspark durchquerten, »ist es gut, dass Chris sich von Ferdinand von Stade interviewen lassen will?«
»Es ist das einzig Richtige«, antwortete Konrad prompt. »Wir müssen der Frau Roeder endlich etwas entgegensetzen. Die Leute mögen Chris, sie bewundern ihn, weil er sein Schicksal so tapfer trägt. Im Augenblick haben sie diese Gefühle auf Frau Roeder übertragen, aber das muss ja nicht so bleiben.«
Togo war schon vorausgelaufen, mit wenigen Sätzen erklomm er den Hügel und verschwand. Anna und Konrad folgten ihm langsamer.
»Sie ist ziemlich schlau, oder? Bis jetzt hat sie sich noch keinen einzigen richtigen Schnitzer erlaubt.«
»Ja, leider. Und sie sieht gut aus. Sie drückt außerdem auf die Tränendrüse und erweckt den Eindruck, als wollte sie nichts für sich, sondern alles nur