*
So verstrichen einige unerquickliche Tage, bis Betti endlich aufatmen konnte. Eine nette Dame von der Fürsorgebehörde erschien bei der Familie von Lehn und brachte die befreiende Nachricht: Erich Gleisner will sich nicht um sein Kind kümmern.
Betti wagte das, was sie hörte, kaum zu glauben. »Ist das auch wirklich wahr?«, fragte sie erfreut.
»Eigentlich ist es traurig, wenn ein Vater nichts von seinem Kind wissen will«, meinte die Fürsorgerin dämpfend.
»Ja, das schon. Aber ich meine … Ich hoffe …« Betti stotterte verlegen.
»Sie haben Evi lieb gewonnen?«, erkundigte sich die Fürsorgerin.
»Ja, sehr …«
»Wir werden für das Kind einen Pflegeplatz suchen«, sagte die Fürsorgerin. »Wenn Sie wollen … Natürlich kann ich jetzt noch keine festen Versprechungen machen, aber ich will sehen, was ich für Sie tun kann.«
»Es wäre doch die beste Lösung, wenn unsere Betti Evi als Pflegekind bekäme«, schaltete sich Andrea ein.
»Erst müssen die notwendigen Formalitäten erledigt werden, aber das wird nicht lange dauern.«
»Ja, aber …«
»Oh, ich lasse Evi hier«, sagte die Fürsorgerin lächelnd, Bettis Einwurf richtig interpretierend.
»Was ist Evis Vater eigentlich für ein Mensch?«, erkundigte sich Andrea. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass jemand einfach auf sein Kind verzichtete.
»Ich kenne ihn nicht«, entgegnete die Dame von der Fürsorge. »Ich kann Ihnen nur das berichten, was ich von der Polizei erfahren habe. Er war früher Förster.«
»Früher?«
»Ja. Dann gab es einen Unfall. Sein Hüftgelenk wurde verletzt. Seitdem kann er seinen Dienst nicht mehr ausüben. Anscheinend ist das der Grund, dass er auch nicht für Evi sorgen kann.«
Die Fürsorgerin verabschiedete sich. Sie hielt ihr Versprechen. Die Formalitäten wurden rasch erledigt, und Betti erhielt die kleine Evi als Pflegekind zugesprochen.
Helmut Koster wurde nicht gefragt, sondern von den Ereignissen förmlich überrollt. Da er aber merkte, wie sehr sich Hans-Joachim und Andrea von Lehn darüber freuten, dass Bettis Wunsch in Erfüllung gegangen war, wagte er es nicht, seinen Groll zu zeigen.
»Nun hast du es also erreicht«, sagte er mit unbewegter Miene zu Betti.
»Ja.« Betti war wie verwandelt. Die Nervosität der letzten Tage war von ihr abgefallen, ihre Augen strahlten.
»Und an mich hast du dabei nicht gedacht«, warf Helmut ihr vor.
»Ach, Helmut! Evi ist ein so entzückendes Kind. Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, und du hast sie so lieb gewonnen, dass auch du sie nicht mehr hergeben willst.«
»Aber was soll geschehen, wenn wir von hier weggehen?«
»Einstweilen sind wir noch hier«, wandte Betti ein. »Du hast ja noch gar keine Stelle bei einem Zirkus.«
»Aber wenn …«
»Verdirb mir nicht die Freude«, bat Betti. »Im Moment ist alles in Ordnung – endlich! Ich mag mir jetzt nicht über die Zukunft Sorgen machen.«
Helmut gab sich geschlagen. Was sollte er auch unternehmen? Wenn er Einwände gegen Evis Verbleib bei Betti erhob, machte er sich bloß lächerlich oder stand als herzloser Bösewicht da. Und das wollte er auf keinen Fall. Außerdem rührte ihn ihre Liebe zu dem Kind doch irgendwie. Sie wirkte so fröhlich und sogar ein wenig ausgelassen, dass er sich seines Widerstandes schämte. Vielleicht hatte Betti wirklich recht. Vielleicht würde er sich an Evi gewöhnen.
*
Bettis strahlende Laune hielt jedoch nicht lange an. Sie hatte allen Grund zufrieden zu sein, aber tief in ihrem Inneren quälte sie was. Zuerst wusste sie nicht, was es war, und dann weigerte sie sich, die in ihr aufkeimenden Gefühle zur Kenntnis zu nehmen.
Es entging Andrea nicht, dass ihr Hausmädchen nach einigen Tagen ausgelassener Fröhlichkeit immer stiller und nachdenklicher wurde. Sie fragte sich, ob Betti ihren Entschluss, Evi zu sich zu nehmen, bereue, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Man brauchte nur beobachten, wie liebevoll und zärtlich Betti mit Evi umging, um zu wissen, dass sie das Kind nicht wieder hergeben würde.
Andrea entschloss sich, Betti auf den Zahn zu fühlen. »Fehlt Ihnen etwas?«, fragte sie.
»O nein – nein – nichts«, stammelte Betti erschrocken.
»Ist Herr Koster unfreundlich zu Ihnen?«, forschte Andrea weiter.
»Herr Koster? Helmut? Ich glaube, er hat sich damit abgefunden, dass Evi bei mir bleibt«, erwiderte Betti eher gleichgültig.
»Nun ja, aber irgendetwas stimmt doch mit Ihnen nicht«, meinte Andrea.
Betti wunderte sich über die Hellsichtigkeit ihrer Dienstgeberin. Sie selbst war sich über die Gedanken, die sie bewegten, nicht klar. Es fiel ihr deshalb auch schwer, sie in Worte zu fassen.
»Evi ist so glücklich hier bei uns«, sagte sie schließlich zögernd.
»Ja, das ist sie wirklich«, entgegnete Andrea warm. »Aber das ist doch ein Grund zur Freude.«
»Gewiss. Nur manchmal …, manchmal muss ich an ihren Vater denken. Ich habe Gewissensbisse.«
»Gewissensbisse?« Andrea schüttelte verwundert den Kopf.
»Evi ist doch sein Kind …« Betti wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte.
»Er hat auf Evi verzichtet«, meinte Andrea.
»Vielleicht hat er das gar nicht gern getan?«, erwiderte Betti nachdenklich.
»Unsinn. Er hat es getan.«
»Ja, aber vielleicht bereut er es.«
»Dazu ist es zu spät. Übrigens ist das nicht unsere Angelegenheit.«
»Trotzdem lässt es mir keine Ruhe. Ich muss immerzu daran denken, was Evis Vater alles versäumt, wenn er nicht mit seinem Kind beisammen ist.«
»Das sind Haarspaltereien.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte Evi gestohlen«, fuhr Betti fort, ohne auf Andreas Einwurf zu achten.
Andrea konnte Bettis Überlegungen nicht folgen. »Aber Evi ist doch vollkommen rechtmäßig ihr Pflegekind«, meinte sie realistisch.
»Rechtmäßig …«, wiederholte Betti und fuhr dann lebhafter fort: »Es sind mir Zweifel gekommen, ob ich wirklich im Recht bin – oder ob ich einfach egoistisch war, als ich Evi nicht hergeben wollte. Sie gehört ihrem Vater.«
»Ihr Vater wollte sie nicht, das steht doch eindeutig fest«, erklärte Andrea. »Wenn Sie Evi nicht genommen hätten, dann wäre sie zu anderen Leuten gekommen.«
»Ja, das stimmt«, gab Betti erleichtert zu, doch gleich darauf fügte sie traurig hinzu: »Trotzdem geht mir das Schicksal Erich Gleisners nicht aus dem Sinn. Wer weiß, ob er freiwillig auf Evi verzichtet hat. Wenn er ein kranker Mann ist, dann ist er möglicherweise gar nicht in der Lage, für sein Kind zu sorgen.«
»Nun ja, das ändert aber nichts an den Tatsachen.«
»Er hat vielleicht Sehnsucht nach seinem Kind«, gab Betti zu bedenken.
»Ich bin der Meinung, dass Sie Ihr Mitleid verschwenden«, erwiderte Andrea, und damit war die Sache für sie abgetan.
Auch Betti sagte nichts mehr. Sie bemühte sich, nicht mehr an Erich Gleisner zu denken. Ihre Pflichten ließen ihr auch kaum Zeit dazu. Die Kinder mussten beaufsichtigt werden, und seit Peter seine ersten freien Schritte gemacht hatte, war er kaum noch zu bändigen. Sein Interesse an der Umwelt war deutlich ausgeprägt, was seinen Eltern und Betti zwar sehr gefiel, aber manchmal zu unliebsamen