den anderen gegenüber vielleicht nicht ganz fair, wenn Sie mich bevorzugen«, murmelte Sabine verlegen. Trotzdem war sie froh, daß sie endlich mit Denise darüber sprechen konnte.
»Vielleicht hast du recht, Sabine. Aber damals, als ich dich kennenlernte, da hattest du eine Bezugsperson, eine Vertraute, sehr nötig. Inzwischen jedoch habe ich den Eindruck, daß du dein Leben ausgezeichnet meistern kannst.« Denise nickte dem Mädchen aufmunternd zu.
»Schon möglich«, gab Sabine zu und zuckte die Schultern. »Trotzdem wäre ich natürlich froh, wenn ich auch nach der Geburt meines Kindes noch eine Weile in Sophienlust bleiben könnte, bis ich etwas anderes gefunden habe.«
Forschend schaute die Verwalterin in das blasse Gesicht der jungen Frau. »Mir scheint, du hast mich falsch verstanden. Niemand will dich fortschicken. Ich hoffe, daß du dich hier sehr wohl fühlst und uns auch noch recht lange erhalten bleibst mit deinem Kind, auf das ich mich übrigens sehr freue.«
»Dann ist Ihnen besser zumute als mir, Frau von Schoenecker. Ich empfinde bis jetzt nur Angst, vor der Geburt und ganz besonders vor der Zukunft. Nie hätte ich gedacht, daß ich einmal eine ledige Mutter sein würde. Und jetzt...«
»In der heutigen Zeit ist das doch keine Schande mehr.« Denise war nun fast ärgerlich. »Du machst dir das Leben nur unnötig schwer, Sabine. Solange du willst, bist du in Sophienlust gut aufgehoben. Und, wer weiß, vielleicht findest du einen netten Mann, dem du dein Herz schenken kannst, und der dich und dein Kind so lieb hat, wie ihr beiden es verdient. Du darfst nur jetzt, gerade in deinem Zustand, nicht so den Kopf hängen lassen. Es ist für das werdende Leben sehr wichtig, daß du optimistisch bist. Glaube mir, es wird alles gut werden.« Die Gutsbesitzerin hatte den Arm um Sabine gelegt, und das Mädchen ließ es sich gern gefallen.
»Danke, Frau von Schoenecker«, sagte Sabine leise. »Ihre Worte haben mir Mut gemacht. Ich fürchtete schon, daß ich dann dieses Heim hier verlassen muß, denn eine richtige Aufgabe habe ich ja nicht. Man braucht mich weder in der Küche, noch darf ich beim Putzen helfen. Und trotzdem...«
»Jetzt reicht es aber, Sabine. Du tust mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Du kümmerst dich intensiv um die Kinder, die es bitter nötig haben. Peter hängt sehr an dir, und Agnes liebt dich. Ich bin wirklich froh, daß du hier bist.«
»Danke.« Sabine Kroff schaute glücklich zu der Frau auf, die sie fast um einen Kopf überragte. »Jetzt fühle ich mich hier in Sophienlust erst so richtig zu Hause.«
»Dann lauf schnell«, sagte Denise und ließ Sabine los. Sie waren inzwischen an der Freitreppe angekommen. »Schau nur, dort wartet Agnes schon auf dich. Sie hat die ganze Zeit sehnsüchtig zu uns herübergesehen.«
»Danke, Frau von Schoenecker. Vielen, vielen Dank für alles.«
Lächelnd schaute Denise der jungen Frau nach, die leichtfüßig auf Agnes zulief. Dann ging die Verwalterin nachdenklich ins Haus. Die Halle mit dem offenen Kamin war leer. Leise knisterte ein kleines Feuer und verbreitete behagliche Wärme und einen angenehmen Geruch nach Fichtenharz.
»Gut, daß Sie kommen, Frau von Schoenecker.« Regine Nielsen, die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust, schreckte Denise aus ihrer Versunkenheit.
»Ah, Schwester Regine. Ich habe Sie gar nicht kommen hören. Das Prasseln des Feuers hat eine Saite in mir zum Klingen gebracht, ich weiß nur nicht welche.« Die schwarzhaarige Frau lächelte freundlich, und Schwester Regine stellte insgeheim fest, wie hübsch Denise eigentlich war.
»Wollten Sie etwas Bestimmtes, Regine? Sie haben mich so erleichtert empfangen.«
Die junge blonde Frau nickte. »Es geht um Peter Eckstein.«
»Kommen Sie, gehen wir in mein Büro, da haben wir es gemütlicher«, bestimmte Denise und stieg die breite, teppichbespannte Treppe hinauf.
Das stilecht eingerichtete Biedermeierzimmer war ebenfalls gut geheizt. Der helle Raum strahlte eine gepflegte Gemütlichkeit aus, die ausgezeichnet zu Denise von Schoenecker paßte. Auch der Frau haftete ein Hauch Vornehmheit an, der aber in keiner Weise unangenehm wirkte.
»Setzen Sie sich doch, Regine.« Denise hängte ihren weißen Wollmantel in den Schrank und deutete dann einladend auf einen der hellen, zierlichen Stühle.
»Danke.«
»Es geht also um Peter Eckstein«, half Denise der jungen Frau weiter, die nachdenklich vor sich hin starrte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Junge etwas ausgefressen hat.« Die schwarzhaarige Frau lehnte sich bequem in ihrem Stuhl zurück.
»O nein, da kann ich Sie beruhigen, Frau von Schoenecker. Der Peter ist ein braver Junge, der uns allen eigentlich nur Freude macht. Nur...«
»Er wird einfach nicht warm hier in Sophienlust, stimmt’s? Schauen Sie mich nicht so überrascht an, Regine. Das ist mir selbst auch schon aufgefallen.«
»Ja, Sie haben recht. Über genau dieses Problem wollte ich mit Ihnen sprechen. Die einzige, die er an sich heranläßt, ist Sabine. Auch zu den anderen Kindern findet er keinen rechten Kontakt.«
»Wie lange ist Peter jetzt schon bei uns?« Denise machte sich ein paar Notizen auf ein Blatt Papier.
»Seit Mitte März, also fast sechs Wochen. Da fühlten sich die anderen Kinder meist schon hier zu Hause oder haben sich wenigstens schon einigermaßen eingelebt gehabt. Bei Peter ist das ganz anders. Ich habe sogar den Eindruck, daß er abends öfter weint.«
Etwas befremdet schaute Denise jetzt auf. »Und Sie haben sich nicht getäuscht?«
»Nein, ich glaube nicht. Er hat zwar meistens so getan, als würde er bereits fest schlafen, aber ich habe es trotzdem gemerkt.«
»Und was meinen Sie, was wir unternehmen sollen? Ich bin sicher, daß Peter seine Mutter und auch seinen Vater sehr vermißt. Bestimmt glaubt er, daß seine Eltern ihn abgeschoben hätten.«
»Das ist gut möglich«, stimmte Regine Nielsen zu. »Ich hätte an Peters Stelle sicherlich dieselben Gedanken.«
»Der arme Junge. Irgendwie müßte man ihm doch helfen können.« Denise legte ihren Stift in die Schale und schaute die Kinderschwester fragend an. »Was meinen Sie, Regine?«
»Ich weiß nicht, ob es da viele Möglichkeiten gibt. Das beste wäre natürlich, wenn Peter seine Mutter wieder hätte. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann fängt er auch schon ein bißchen zu stottern an. Das ist ein sicheres Zeichen, daß ihm etwas sehr Wichtiges fehlt, nämlich die Mutterliebe.«
»Na ja, die können wir ihm natürlich nicht geben. Haben Sie schon mit Sabine über Peter gesprochen?«
»Nein, ich dachte, es wäre besser, wenn ich Sie zuerst informieren würde. Vielleicht wissen Sie einen Ausweg.«
»Das ist lieb von Ihnen, Regine, aber in diesem Fall kann nur die eigene Mutter helfen. Wir können dem Jungen zwar Liebe geben, aber die Mutter können wir ihm nicht ersetzen. Wenn der Herr Eckstein wieder zu Besuch kommt, dann sagen Sie ihm bitte, daß ich ihn dringend sprechen möchte.«
»Ja, Frau von Schoenecker. Ich bin wirklich froh, daß Sie die Sache in die Hand nehmen. Wir wissen uns wirklich keinen Rat mehr. Sogar Frau Rennert hat bereits die Waffen gestreckt. Und Sie wissen ja, daß sie sonst unbegrenzt Geduld hat, wenn es um ein verlassenes Kind geht.«
»Und dieses Mal hat alles keinen Sinn mehr?« Denise lächelte gütig und strich sich ihr langes glänzendes Haar zurück. »Wir werden das Kind schon schaukeln, oder deutlicher gesagt, wir werden uns Peter besonders annehmen. Ich werde mit Sabine darüber reden. Mir scheint, das Mädchen hat uns der Himmel geschickt.«
Regine nickte. »Ich bin auch immer wieder verwundert, wenn ich sehe, welch ein Geschick sie trotz ihrer Jugend hat, mit verlassenen oder traurigen Kindern umzugehen.«
»Es wird wohl auch eine Rolle spielen, daß sie selbst ein so schweres Schicksal erleiden mußte. Da wird man reifer und auch aufgeschlossener anderem Leid gegenüber.« Denise wußte, wovon sie sprach, denn auch sie war durch eine harte Schule gegangen. Von der