Tür hinter ihm. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« fragte sie, während sie ihm ins Wohnzimmer vorausging. Rasch rückte sie ein Sofakissen zurecht.
»Bitte, machen Sie sich keine Umstände, Frau Keller«, sagte Wolfgang. »Ich habe eigentlich ein kleines Attentat auf Sie vor. Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht Lust hätten, mit mir essen zu gehen.«
Birgit war so verblüfft, daß sie ihn sprachlos anstarrte.
»Natürlich nur, wenn Sie heute abend nicht schon etwas vorhaben«, fügte der Mann hinzu. »Ich will ehrlich sein, mir fiel zu Hause die Decke auf den Kopf.«
Die Verkäuferin mußte über seine Offenheit lächeln. »Ich habe heute abend nichts vor«, sagte sie. »Und da Sie ehrlich waren, will ich es auch sein. Ich wollte mir nur eine Kleinigkeit zum Abendessen machen und dann die nächsten Stunden bis zum Schlafengehen gemütlich im Sessel verbringen.«
»Dann will ich Sie selbstverständlich auch nicht davon abhalten, Frau Keller«, sagte Wolfgang. Er gab sich Mühe, seiner Enttäuschung Herr zu werden.
»Wir könnten zweierlei Dinge tun«, erwiderte Birgit. »Entweder wir gehen essen, ober aber Sie nehmen mit dem vorlieb, was ich in der Wohnung habe, und wir machen uns hier einen gemütlichen Abend.«
»Ich kann mich doch nicht einfach bei Ihnen einladen«, meinte der Geschäftsmann halbherzig.
»Sie können«, sagte Birgit resolut. »Sie nehmen jetzt Platz, und ich gehe in die Küche und bereite eine zweite Portion Spiegeleier.«
»Lassen Sie mich wenigstens helfen«, meinte Wolfgang.
»Später, beim Abwasch«, entgegnete Birgit lachend. Ihre Müdigkeit war verflogen. Sie freute sich über den Besuch ihres Chefs. Auf dem Weg zur Küche überlegte sie bereits, was sie ihm außer den Spiegeleiern noch anbieten konnte.
Bald darauf kehrte sie mit einem gefüllten Tablett ins Wohnzimmer zurück. Sie bemerkte, daß Wolfgang vor der Vitrine stand, über der ein Foto ihrer Tochter und ihres Mannes hing. Er schien es nachdenklich zu betrachten.
»Ich hätte Sie nicht daran erinnern dürfen«, meinte er schuldbewußt. Er trat zum Tisch. »Wenn Sie mir sagen, wo das Geschirr steht, hole ich es.«
»Im Schrank rechts neben dem Fenster«, sagte Birgit. Sie nahm die Teekanne vom Tablett und stellte sie auf das Stövchen.
Wolfgang ging an den Schrank und kam mit zwei Gedecken zurück. »Ein wunderschönes, gutes Geschirr«, schwärmte er. Bewundernd drehte er eine der Tassen in den Händen. »Jeder Porzellansammler würde Ihnen ein Vermögen dafür bieten.«
»Es ist unverkäuflich, Herr Kayser.« Birgit lächelte. »Vergessen Sie für ein paar Stunden, daß Sie Antiquitätenhändler sind.«
»Ich dachte mir schon, daß Sie es nicht verkaufen wollen.« Mit einem Seufzer stellte Wolfgang die Tasse auf den Unterteller.
»Das Geschirr stammt noch von meiner Urgroßmutter«, erzählte die junge Frau. »Leider ist es nicht mehr ganz vollständig. Ursprünglich hatte es fünfunddreißig Teile. In jeder Generation sind ein oder zwei von ihnen zu Bruch gegangen. Auf mein Konto geht eine der Fleischplatten.«
»Ich hoffe, Ihre Urgroßmutter hat Ihnen Absolution erteilt«, lachte Wolfgang.
»Bitte, nehmen Sie Platz!« Birgit wies auf einen Stuhl und setzte sich ebenfalls. Sie schenkte dem Besucher Tee ein und bediente sich dann selbst.
»Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich mich irgendwo selbst eingeladen habe«, sagte Wolfgang. Er griff nach dem Brotkorb.
»Sie werden darüber hinwegkommen«, meinte Birgit belustigt. Mutig fügte sie hinzu: »Im übrigen können Sie Ihre Einladung zum Abendessen ja irgendwann wiederholen.«
»Mein Wort darauf! Morgen geht es leider nicht. Da ist Samstag, und ich werde Adina in Sophienlust besuchen. Ich kehre erst Sonntagabend zurück. Aber wie wär’s mit Montag? Haben Sie Montagabend schon etwas vor?«
»Nein.«
»Fein, dann behalten wir den Montag im Auge«, sagte Wolfgang.
»Ich freue mich darauf«, erwiderte Birgit und sah ihm ins Gesicht. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß es weit mehr als nur Sympathie war, was sie für ihn empfand. Sie spürte, wie eine brennende Röte ihre Wangen überzogen. Rasch sprang sie auf. »Ich habe noch etwas in der Küche vergessen«, entschuldigte sie sich.
Wolfgang Kayser sah ihr nach. Was für eine aparte, nette Frau, dachte er. Es war ein guter Einfall gewesen, mit ihr den Abend zu verbringen.
Birgit kehrte mit zwei Grapefruithälften zurück. »Unser Nachtisch«, sagte sie und setzte sich wieder. »Wie hat sich Adina in Sophienlust eingelebt?«
»Sie hat es weder den Erziehern noch den übrigen Zöglingen leichtgemacht«, entgegnete Wolfgang. »Während der ersten Tage hat sie alles mögliche angestellt. Scheinbar hoffte sie, man würde mit ihr die Geduld verlieren und sie nach Hause schicken. Als sie merkte, daß ihr niemand diesen Gefallen tat, hat sie sich in Schweigen gehüllt.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nun ist aber meine Tochter ein sehr gesprächiges Kind und hat deshalb das Schweigen nicht lange ertragen können. Wie es aussieht, hat sie sich inzwischen mit ihrem Aufenthalt in Sophienlust abgefunden, zumal sie dort jederzeit ausreiten kann. Sie müssen wissen, Adina ist eine große Pferdenärrin.«
»Abgefunden klingt nicht gerade ermutigend«, stellte Birgit Keller fest.
»Es gibt für sie auch keinen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Ich habe noch immer keine Haushälterin gefunden. Meine Schwiegermutter macht mir inzwischen die Hölle heiß. Sie hatte mir angedroht, sich ans Jugendamt zu wenden und hat es auch tatsächlich getan.« Wolfgang stieß heftig den Atem aus. »Ich begreife einfach nicht, warum es so schwer ist, eine kinderliebe Haushälterin zu bekommen.«
»Nicht jedem ist es gegeben, mit Kindern umzugehen. Mir ist es eigentlich immer leichtgefallen, den richtigen Ton ihnen gegenüber zu finden.« Die Verkäuferin legte ihr Besteck an den Tellerrand. »Eigentlich hatte ich Kindergärtnerin werden wollen, aber dadurch, daß ich dann meinen Mann kennenlernte, ist alles anders gekommen. Ich…«
»Könnten Sie es nicht einmal mit Adina versuchen?« fiel ihr Wolfgang spontan ins Wort.
»Ich?«
»Ja.« Auch Wolfgang legte sein Besteck beiseite. »Bitte, schauen Sie mich nicht so entgeistert an, Frau Keller, es ist mir völlig ernst damit. Ich mache keine Witze. Sophienlust mag ein ausgezeichnetes Kinderheim sein, aber es ist nichts für Adina. Anfangs glaubte ich auch, es würde ihr ganz guttun, nicht immer im Mittelpunkt zu stehen, aber sie fühlt sich dort todunglücklich. Immer wenn ich sie besuche oder anrufe, fragt sie mich, wie lange sie denn noch bleiben muß.«
Hat er nun von Anfang an vorgehabt, mich zu fragen, ob ich als Haushälterin zu ihm kommen will? überlegte Birgit. Sie hob den Kopf. Ihr Blick begegnete dem von Wolfgang. Nein, das traute sie ihm nicht zu. Wahrscheinlich hatte er tatsächlich eben erst den Einfall.
»Aber ich bin doch Verkäuferin«, sagte sie wie benommen. »Und ich dachte bisher, eine recht gute Verkäuferin.«
»Die beste Kraft, die ich jemals hatte«, bestätigte Wolfgang. »Aber das heißt nicht, daß Sie meiner Tochter nicht ein bißchen die Mutter ersetzen könnten. Ich möchte, daß Adina in geordneten Verhältnissen aufwächst. Sie braucht einen Menschen, der zu ihr steht, mit dem sie auch über Dinge reden kann, mit denen sie niemals zu mir kommen würde.« Er streckte ganz abwehrend eine Hand vor. »Sagen Sie jetzt bitte nicht, dazu hätte sie ja meine Schwiegermutter. Sie wissen, ich möchte Adina wirklich soweit wie möglich dem Einfluß dieser Dame entziehen.«
»Muß ich mich sofort entscheiden?« fragte Birgit. Im Grunde wollte sie ihre Arbeit im Antiquitätengeschäft nicht gegen den Posten einer Haushälterin eintauschen. Zudem ahnte sie, daß es mit Adina Schwierigkeiten geben würde. Bisher hatte es ja das Mädchen geschafft, jede Haushälterin zu vergraulen. Warum sollte es ausgerechnet bei ihr anders sein?