Marietta Brem

Sophienlust Bestseller Staffel 1 – Familienroman


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bildhübsche Mädchen mit den wirren dunklen Locken zuckte die Schultern. »Ich hätte ihn aber so gern.« Sie machte ein paar Schritte auf die Frau zu. Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. »Ich weiß«, jubelte sie und rannte davon. Wenige Sekunden später kam sie mit ihrem Teddy auf den Arm zurück. »Er hat in Mamis Bett geschlafen. Jetzt ist es mir wieder eingefallen.«

      Das Mitleid mit dem kleinen, heimatlosen Kind trieb Denise die Tränen in die Augen. Zärtlich preßte sie den schmächtigen Körper des Mädchens an sich. »Kleine Agnes«, flüsterte sie, »du sollst es wunderschön haben in Sophienlust, das verspreche ich dir.«

      Sie nahm das Mädchen bei der Hand, und dann gingen sie einträchtig zum Auto, das Denise vor dem Haus geparkt hatte. Frau Gerold, die Hauswirtin, hatte schon die Koffer und Taschen hinuntergetragen und auf dem Gehweg abgestellt.

      »Sie wissen ja, was mit dem Rest zu machen ist«, sagte Denise mit einem bedeutungsvollen Blick auf Agnes.

      »Selbstverständlich, Frau von Schoenecker. Es tut mir ja so leid. Fräulein Müller war ein so reizendes Persönchen. Ich kann gar nicht glauben...«

      »Leben Sie wohl, Frau Gerold. Und danke, daß Sie sich um Agnes gekümmert haben.« Die beiden Frauen reichten sich die Hände, und auch Agnes wollte sich von der Frau verabschieden, die so lieb zu ihr gewesen war.

      Sie drückte der alten Frau einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Tante Gerold. Ich komme dich bald mal besuchen.« Winkend verschwand Agnes im Fond des Autos, während sich die Hauswirtin verstohlen eine Träne aus dem Gesicht wischte.

      Vorsichtig lenkte Denise von Schoenecker den Wagen durch die belebten Straßen von Murrhardt. Hier also hatte Gisela die letzte Zeit gelebt.

      Für einen Augenblick sah Denise die schmächtige junge Frau vor sich, wie sie ihr damals, vor fast sechs Jahren, die Hand gegeben und sich bedankt hatte. Schon damals war Gisela immer bleich und mager gewesen, aber niemand hatte gewußt, welch furchtbare Krankheit in ihr geschlummert hatte. Sie war glücklich gewesen, oder zumindest hatte sie so getan. Denise war sich da nicht ganz sicher.

      Von diesem Tag an hatte sie nichts mehr von Gisela Müller gehört. Bis vorgestern, als Frau Gerold sie angerufen und ihr von Giselas Tod erzählt hatte. Die Sorge um ihr Kind hatte die Mutter bis zum letzten Atemzug belastet, und nur das Versprechen der Hauswirtin, sofort Denise von Schoenecker zu verständigen, wenn sie nicht mehr am Leben war, hatte die Kranke einigermaßen beruhigen können.

      Zuerst hatte Frau Gerold nicht gewußt, wo sie diese Frau suchen sollte, aber dann hatte ihr bei der Beerdigung eine andere Frau erzählt, daß Gisela früher in Sophienlust beschäftigt gewesen war. Und durch diese Information war die gutmütige Hauswirtin dann an die richtige Adresse gekommen.

      »Nein, von einem Mann weiß ich nichts«, hatte Frau Gerold auf Denises vorsichtige Fragen geantwortet. »Aber Fräulein Müller war bereits im dritten Monat schwanger, als sie hier einzog. Sie hatte keine Arbeit, und so übertrug ich ihr hier im Haus einige Aufgaben, für die ich sie dann auch entlohnte, damit sie leben konnte. Gisela war mir fast wie eine Tochter, die mir das Schicksal ja leider nie vergönnt hat.«

      Ganz in Gedanken versunken bog Denise bei Sulzbach in die B 14 ein. Auch hier herrschte ziemlich reger Verkehr, denn die Leute fuhren wie immer um diese Zeit von der Arbeit nach Hause. Jeder hatte es eilig, kaum einer schaute nach links oder nach rechts.

      Agnes hielt ihren geliebten Teddy im Arm und flüsterte ihm ständig etwas zu.

      Denise lächelte, als sie einen Augenblick lang das Kind im Rückspiegel beobachtete. Agnes war ein bezauberndes Mädchen, das die Herzen der anderen Kinder von Sophienlust bestimmt und rasch für sich gewinnen würde.

      Als sie an Oppenweiler vorbeifuhren, war es bereits finstere Nacht. Die Straßenlaternen warfen gespenstische Schatten auf den Gehweg, und Denise brauchte jetzt volle Konzentration. Gut eine halbe Stunde Fahrzeit lag noch vor ihnen, bis sie endlich in Sophienlust waren. Die Frau war froh, daß Agnes auf dem Kindersitz schlief.

      Links von ihnen lag Backnang mit seinen unzähligen Lichtern. Und rechts dehnten sich Wiesen und Felder, die man jetzt in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen konnte. Denise aber erinnerte sich gut daran, denn sie war schon öfter mit ihrem Mann Alexander und ihren beiden Söhnen Nick und Henrik hier spazierengegangen.

      Nun konnte das Viadukt nicht mehr allzu fern sein, überlegte Denise und hoffte, daß die Ampel auf grün zeigen würde, wenn sie kam. Schon seit Monaten wurde die Straße verbreitert und der Verkehr an der Baustelle durch eine Ampelanlage geregelt.

      Müdigkeit stieg in der Frau auf, und die Augen fielen ihr fast zu. Am liebsten hätte sie das Radio eingeschaltet, aber damit hätte sie womöglich Agnes aufgeweckt.

      Natürlich war die Ampel auf rot. Langsam ließ Denise den Wagen ausrollen, bis er knapp vor dem Hindernis zum Stehen kam. Sie befand sich ganz allein auf der Brücke, die ziemlich hoch lag. Nur eine Lampe, die vorübergehend hier aufgestellt war, spendete spärliches Licht.

      Und plötzlich sah sie es. Der Schreck fuhr Denise durch alle Glieder. Sie blieb einen Moment wie erstarrt sitzen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

      Eine Gestalt schwang sich über das Geländer, und die Verwalterin des Kinderheims fürchtete schon, daß die Person jeden Augenblick abstürzen könnte. Aber noch stand sie, an das Geländer geklammert und schien zu zögern.

      Nun gab es für Denise kein Halten mehr. Hier war jemand lebensmüde, und sie war die einzige weit und breit, die helfen konnte. Zumindest versuchen mußte sie es.

      Leise öffnete sie die Autotür und stieg aus. Zum Glück war die Straße an dieser Stelle breit genug, daß notfalls andere Autos an ihr vorbeifahren konnten. Tausend Gedanken wirbelten der Frau durch den Kopf, während sie rasch auf die andere Straßenseite hinüberlief. Hoffentlich kam sie nicht zu spät, und hoffentlich machte sie jetzt keinen Fehler. Das Leben eines Menschen hing davon ab, wie sie sich verhielt.

      Denise wußte, daß man Lebensmüde nicht erschrecken durfte. Aber ansprechen mußte sie diesen Menschen, der sich offensichtlich in höchster Not befand.

      »Warum wollen Sie es tun?« fragte sie leise.

      Als die Person sich umdrehte, erkannte Denise, daß es sich um eine Frau handelte, oder besser noch um ein Mädchen. Auf dem Kopf trug es eine Schildmütze, die ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh. Die schlanke Gestalt steckte in einem dunklen Overall, der dieses Aussehen noch unterstrich. So war sie bei der herrschenden Dunkelheit kaum zu erkennen, und auch Denise hätte das Mädchen nicht bemerkt, wenn nicht die Ampel gerade auf rot umgeschaltet und sie dadurch Zeit gehabt hätte, sich ein wenig umzusehen.

      »Gehen Sie weg. Lassen Sie mich in Ruhe«, kam die hastige Antwort. »Verschwinden Sie endlich.«

      »Warum wollen Sie es tun?« wiederholte Denise ihre Frage von vorhin. Vorsichtig umfaßte sie den Oberarm des Mädchens.

      »Sie können mich nicht aufhalten, also verschwinden Sie.«

      »Da haben Sie recht«, gab Denise zu. »Wenn Sie wirklich springen ­wollen, dann kann ich es nicht verhindern. Aber Sie sind sich ja gar nicht sicher, ob Sie das wirklich wollen, sonst wären Sie längst gesprungen.«

      »Haben Sie eine Ahnung.« Die Unbekannte lachte bitter auf. »Ich habe es mir lange überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß das für mich die einzige Lösung ist. Für mich gibt es jetzt keinen Platz mehr auf dieser Welt. Mein Leben ist kaputt, weil der Mann, den ich liebe, tot ist.«

      Insgeheim atmete Denise schon ein bißchen auf. Wenigstens war die junge Frau bereit, zu reden. Und das war immerhin schon etwas, denn dann bestand zumindest ein bißchen Hoffnung.

      »Und Sie meinen, das ist nun Grund genug, Ihr Leben wegzuwerfen, als ob es keinen Wert mehr hätte? Glauben Sie mir, irgendwie wird es auch für Sie weitergehen.« Denise wußte, daß ihre Worte hart klangen, aber mit Mitleid hätte sie dieser Unglücklichen nicht helfen können.

      »Und Sie meinen, mir Vorhaltungen machen zu müssen? Sie haben ja gar keine Ahnung, wie hart das Leben sein