aber mein Gefühl, vielmehr mein Pflichtgefühl…« Sie seufzte auf. »Ich habe Angst, Wolfgang.«
»Ich auch«, gestand er. »Ich bin hin und her gerissen. Sie ist Ellens Mutter, und ich habe Ellen sehr geliebt. Muß ich mich nicht um ihre Mutter kümmern? Andererseits könnte sie alles zerstören, ich meine deine Beziehung zu Adina. Gut, sie mag uns vielleicht versprechen, sich aus allem herauszuhalten, aber wird sie es halten?«
»Wenn wir merken, daß es nicht geht, bitten wir sie eben, in ein Sanatorium zu gehen«, schlug Birgit widerwillig vor.
»Wenn du meinst, wir könnten es wagen«, sagte Wolfgang. Obwohl er seine Schwiegermutter nicht sonderlich mochte, klang es erleichtert.
»Es bleibt uns ja nichts anderes übrig«, erwiderte Birgit. »Vergiß nicht, wir sind zu zweit, wir werden es schon schaffen.« Es klang zuversichtlicher, als sie es war.
*
»Großmama, wie sehe ich aus?« Adina drehte sich vor ihrer Großmutter im Kreis. Sie trug wieder die teure Reitkleidung, die ihr Vilma Stein zum Geburtstag geschenkt hatte.
»In diesen Zigeunerkleidern fahre ich nicht mit dir zum Reiten«, hatte sie gesagt, als Adina vor einigen Tagen die von Schwester Regine geschenkten Kleider hatte anziehen wollen.
»Du siehst wunderschön aus, Liebes«, erklärte sie jetzt und zog Adina in die Arme.
»Wann gehen wir mal wieder zusammen ins Konzert, Großmama?« fragte das Mädchen.
»Wie wär’s mit Freitag?«
»Au fein!« Adina wandte sich zu Birgit um, die mit einer Näharbeit auf der Couch saß. Den Vati nehmen wir aber auch mit.«
»Natürlich.« Vilma Stein stand auf. »Ich fahre jetzt mit Adina los«, sagte sie zu Birgit. »Wir sind so gegen sechzehn Uhr zurück. Es wäre schön, wenn es dann Kaffee gäbe.«
Birgit kochte vor Wut. Vilma Stein lebte seit drei Wochen bei ihnen, und es war nicht abzusehen, wie lange sie noch bleiben würde. Von wegen Rekonvaleszentin! Ihr ging es besser als je zuvor. Nur Wolfgang glaubte noch an ihre angeblichen Beschwerden und Schwindelanfälle.
»Mit Ihrem Hausmädchen mögen Sie zwar in diesem Ton sprechen können, Frau Stein, aber nicht mit mir«, erklärte sie. »Ich fahre nachher in die Stadt und bin sicher nicht bis sechzehn Uhr zurück.«
»Weiß Wolfgang davon?«
»Adina, bleibt es dabei, daß wir heute nachmittag gegen fünf englisch üben?« wandte sich Birgit an ihre Stieftochter, ohne auf die Frage Vilma Steins einzugehen.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Englisch ist nicht so wichtig. Wenn wir wieder zu Hause sind und Kaffee getrunken haben, mache ich mit meiner Großmama einen Spaziergang.«
»Es sind deine Noten«, betonte Birgit.
»Eben«, kam es von Adina. »Komm, Großmama, laß uns endlich gehen.« Sie griff nach der Hand ihrer Großmutter.
»O Gott«, stöhnte Birgit leise auf, als die beiden das Haus verlassen hatten. Adina wurde mit jedem Tag aufsässiger gegen sie, und Vilma Stein behandelte sie wie ein Dienstmädchen.
Sie ging ins Schlafzimmer hinauf und legte sich auf ihr Bett. Sie fühlte eine große bleierne Müdigkeit in sich. Wie oft war sie in den letzten Tagen am Verzweifeln gewesen. Am Vorabend hatte Vilma Stein angedeutet, daß sie ihren Aufenthalt bei ihnen ausdehnen wollte. Wolfgang hatte sofort zugestimmt. Er vertrug sich mit seiner Schwiegermutter ausgezeichnet, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Birgit richtete sich auf und stützte den Kopf in die Hände. Sie liebte ihren Mann nach wie vor, bereute nicht, ihn geheiratet zu haben, doch er schien blind für seine Umwelt zu sein. Er glaubte ihr ganz einfach nicht, wenn sie von den Schwierigkeiten sprach, die sie tagsüber mit seiner Schwiegermutter und Adina zu bewältigen hatte. Aber wie sollte er ihr auch glauben, denn abends behandelte Vilma Stein sie mit so ausgesuchter Höflichkeit, daß sie selber darüber staunte, wie sie sich innerhalb weniger Stunden so verwandeln konnte. Und auch Adina verhielt sich dann ganz anders.
Denise von Schoenecker hat uns gewarnt, dachte sie, aber wir haben ihre Warnung damals in den Wind geschlagen. Birgit stand auf und trat vor den Spiegel. Ihr Gesicht wirkte verhärmt. Jeden Abend fiel es ihr schwerer, sich für Wolfgang zurechtzumachen.
Ob sie in Sophienlust anrufen sollte? Denise von Schoenecker wußte vielleicht einen Rat. Aber würde das nicht einer Niederlage gleichkommen? Sie hatte versagt.
Birgit hob den Kopf und betrachtete ihr Spiegelbild. Nein, sie durfte sich nicht unterkriegen lassen, mußte gegen den schlechten Einfluß, den Vilma Stein auf Adina ausübte, ankämpfen. Das war sie nicht nur sich, sondern auch Wolfgang und Adina einfach schuldig.
Sie zauberte ein mattes Lächeln auf ihr Gesicht. Irgendwie fühlte sie sich jetzt besser. An diesem Abend wollte sie mit Wolfgang über seine Schwiegermutter und Adina sprechen. Diesmal durfte sie sich nicht mit Beschwichtigungen zufriedengeben, sondern mußte eine klare Entscheidung von ihm verlangen.
Birgit verließ das Schlafzimmer und stieg die Treppe zum Erdgeschoß hinunter. Eigentlich hatte sie vorgehabt, in die Stadt zu fahren, doch sie verspürte keine Lust mehr dazu. Mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen wollte sie es sich auf der Terrasse bequem machen. Sie war völlig allein im Haus. Sie wollte die Stille so richtig genießen und Kraft für die Unterredung mit Wolfgang sammeln.
Als Vilma Stein und Adina vom Reiten zurückkehrten, saß Birgit noch immer auf der Terrasse.
»Ich dachte, Sie wollten wegfahren, Birgit«, wunderte sich Vilma Stein.
»Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte die junge Frau.
»Dann würde ich jetzt gern Kaffee trinken! Die Fahrt nach Wildmoos und zurück hat mich doch erschöpft.« Vilma Stein nahm in einem der bequemen Terrassensessel Platz. »Und denken Sie bitte daran, daß ich den Kaffee nicht so stark möchte. Allerdings sollte er schon etwas kräftiger als heute morgen beim Frühstück sein.«
Jetzt hob Birgit doch den Kopf. Sie sah, daß Adina hinter dem Sessel ihrer Großmutter stand. Um die Lippen des Mädchens lag ein Lächeln, das sie nicht zu deuten vermochte. War es Zustimmung, Verlegenheit, oder gar Triumph? Sie war sich einfach nicht sicher. Adina richtete sich hundertprozentig nach ihrer Großmutter, dennoch war sie überzeugt, daß die Elfjährige sich im Grunde auch nach Mutterliebe sehnte.
»Sie wissen ja, wo die Kaffeemaschine steht, Frau Stein«, sagte sie. »Es hat überhaupt keinen Sinn, daß ich den Kaffee aufbrühe. Denn ganz gleich wie ich ihn zubereite, werden Sie stets etwas daran auszusetzen haben.«
Vilma Stein holte tief Luft. »Ich hatte eigentlich immer gehofft, daß wir ein gutes Verhältnis zueinander finden würden, aber scheinbar legen Sie keinen Wert darauf, Birgit«, erwiderte sie. Sie griff nach Adinas Hand. »Machst du mir bitte eine Tasse Kaffee, Adina?«
»Gern, Großmama.« Das Mädchen warf Birgit einen kurzen Blick zu und verschwand dann im Haus.
»Wenn einer keinen Wert auf ein gutes Verhältnis legt, dann sind Sie es, Frau Stein«, tat Birgit ihre Meinung kund. Sie stand auf. »Um ehrlich zu sein, mir reicht’s allmählich. Ich bin sicher, daß Sie ihr Domizil hier nur aufgeschlagen haben, um Unfrieden zu stiften.«
»Was nehmen Sie sich eigentlich heraus?«
»Ich wollte Ihnen schon lange einmal sagen, was ich von Ihnen denke.« Birgit wußte, daß es unklug war, so zu Vilma Stein zu sprechen, doch sie konnte sich nicht länger beherrschen. Statt erst auf ihren Mann zu warten, sagte sie ihr bereits jetzt gehörig die Meinung.
»Birgit!«
Die Frau hob den Kopf und sah zum Salon. Wolfgang stand in der offenen Terrassentür. Weder sie noch Vilma Stein hatten ihn kommen hören. »Vielleicht ist es gut, daß du gerade dazukommst«, sagte sie. »Deine Schwiegermutter behandelt mich immer wieder wie ein Dienstmädchen. Und das lasse ich mir nicht länger gefallen, ich denke nicht daran. Adina hetzt sie auch gegen mich auf.«