ganzes Leben lang! Es hatte sie triumphierend glücklich gemacht und sehr einsam. Es war Qual und Arbeit und Zweifel und Erfolg. Wenn es mit Liebe Hand in Hand ging, war es ein Geschenk –, das sich unter Umständen als leere Mogelpackung herausstellen konnte. So oder so machte es sehr verletzlich.
Hatte dieser Leander Florentin die gleichen Erfahrungen gemacht?
»Ja, das kann ich verstehen«, griff Sophia vorsichtig seine Worte auf. »Bei mir ist es die Malerei. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich in einem Korb unter dem Olivenbaum in unserem Garten liege und Sonnenstrahlen sehe, die durch die Blätter hervorblitzen. Es ist Schwarz, Braun und Grün, Silber und Gold in einer unendlichen Vielfalt, die ich unbedingt festhalten will.«
Sophia brach ab und lachte verlegen auf, als ihr bewusst wurde, wovon sie sprach. Was war das an diesem Mann, das sie sich öffnete und ihre tiefsten Erinnerungen hervorholte?
»Alles Unsinn, sagte meine Nonna, ich war noch ein Baby und lag in unserem Wäschekorb. Es ist unmöglich, dass ich mich an diesen Augenblick erinnern kann.«
»Und warum nicht?«, antwortete er ernsthaft. »Du trägst Farben in dir wie ich Musik. Ich finde es wunderschön, dass du diese Erinnerung hast, mit der alles begann.«
Sophia schluckte. Sie war eine ruhige, beherrschte Frau mit einem sehr präzisen Blick auf die Welt, und jede übertriebene Gefühlsäußerung war ihr fremd. Aber dieses Verständnis, das ihr dieser Mann entgegenbrachte, rührte sie zu Tränen.
Leander, der ihre Bewegung bemerkte, berührte wie absichtslos ihre Hand. Es war ein flüchtiges Streifen der Fingerspitzen, das mehr wärmte, als hätte er ihr einen Mantel um die Schultern gelegt. Es war wunderbar, und es war zu viel für sie.
Die junge Frau rückte unmerklich ein Stückchen zur Seite. Interessiert ließ sie ihren Blick über die Inneneinrichtung des Wagens schweifen. Neben dem schlichten, gut ausgeleuchteten Holztisch gab es Einbauschränke, Werkzeugregale und eine winzige Kaffeeküche. Unter dem gewölbten Dach befand sich ein eingebautes Podest mit Polstern, das bequem genug aussah, dass man darauf auch schlafen mochte. Bücher waren auf Wandborden untergebracht, und die Fenster ließen sich mit schlichten weißen Rollos verdunkeln.
»Wie bist du darauf gekommen, dich in diesem Wagen einzurichten?«, fragte sie.
»Zuerst der Not gehorchend«, erzählte Leander. »Ich verdiente zu wenig Geld, um mir eine Wohnung und eine Werkstatt leisten zu können. Ein Auto brauchte ich auch, weil ich mobil sein musste. Also kaufte ich mir zunächst ein ziemlich klappriges Wohnmobil. Irgendwann sah ich dann diesen alten Landfahrerwagen, und es war um mich geschehen. Allmählich hatte ich begonnen, mir in meinem Beruf einen Namen zu machen, und konnte den Wagen Stück für Stück so herrichten, wie ich es wollte.« Zufrieden glitt sein Blick über das, was er geschaffen hatte. »Jetzt ist er nicht nur meine Werkstatt, sondern auch mein zweites Zuhause.«
»Und dein erstes Zuhause, wo ist das?«
»In einem kleinen Ort nahe der österreichischen Grenze. Freunde von mir bewirtschaften dort einen Hof. Ich habe eine winzige Wohnung bei ihnen gemietet, kann einen Schuppen als weitere Werkstatt nutzen und meinen Wagen dort abstellen. Es ist idyllisch dort, ganz ähnlich wie hier in Bergmoosbach.« Er suchte ihren Blick. »Du könntest mich dort besuchen, irgendwann.«
»Vielleicht.«
»Wir könnten nach Salzburg oder Wien fahren, wenn dir das dörfliche Nebeneinander von Mensch und Tier und Natur zu langweilig wird.«
»Wir werden sehen.«
»Was …, was wirst du denn tun, wenn dein Auftrag hier in Bergmoosbach beendet ist?« Leander war von Sophias sparsamen Antworten verunsichert und hoffte, dass sie sich durch seine Frage nicht bedrängt fühlte.
»Ich fahre nach Italien, in mein Heimatdorf. Meine Nonna feiert ihren neunzigsten Geburtstag, und es wird ein großes Fest geben mit allen Verwandten, Bekannten, Nachbarn und zufällig Vorbeikommenden.« Sophia lächelte. »So etwas liebt meine Nonna.«
»Und du?« Leander musterte ihre elegante, zerbrechliche Erscheinung und konnte sie sich inmitten eines lauten, wild zusammen gewürfelten Dorffestes nicht vorstellen.
»Es ist Nonnas Fest, nicht meins!«, antwortete sie ausweichend. Sie schob ihr geleertes Glas über den Tisch zurück und erhob sich. »Ich sollte jetzt gehen, morgen wartet wieder eine Menge Arbeit auf uns. Danke für den schönen Abend bei dir, Leander.«
Der Mann reichte ihr ihren Mantel und den opulenten Seidenschal, den sie getragen hatte, als er sie das erste Mal sah. Er schaute in die sommerliche Dunkelheit hinaus, die von Feuchtigkeit gesättigt war. »Ich würde dich gern nach Hause bringen, Sophia«, bot er an.
»Danke, das ist nicht nötig, mein Hotel liegt ganz in der Nähe.«
Nötig nicht unbedingt, aber schön!, dachte Leander bedauernd. »Gute Nacht, Sophia.«
»Gute Nacht. Bis morgen!«
Er schaute der jungen Frau hinterher, bis ihre zarte Gestalt die Kirche umrundet hatte und in der Dunkelheit verschwunden war.
*
Das Fortschreiten der Arbeiten in der heimischen Kirche blieb im Dorf von allgemeinem Interesse. Sogar in der Grundschule, wo die kleine Marei Plättner in der ersten Klasse saß, erzählte die Lehrerin von dem alten Wandgemälde, das jetzt wieder zu neuem Leben erwachte. Es war eine Menge von Kunst und Unvergänglichkeit die Rede, und Marei hörte sehr genau zu.
Marei war das mit Abstand jüngste Kind in ihrer Familie, und sie musste sich neben vier älteren Brüdern und einer Schwester behaupten. Das war nicht immer leicht, und die Kleine fand, dass sie oftmals unterging im Kreis der fünf Großen. Das sah ihre Familie allerdings anders, denn Marei verfügte über viel Temperament und eine blühende Fantasie, mit der sie das Leben anging.
Das kleine Mädchen wollte möglichst schnell so wie die großen Geschwister sein, deren Leben viel aufregender und geheimnisvoller war als ihres. Jetzt sah sie eine gute Gelegenheit gekommen, um ein eigenes Geheimnis zu haben! Ein richtig gutes, das die Jahrhunderte überdauern würde. Und ein tolles Abenteuer würde sie dabei auch erleben.
Das war Mareis Plan: Ausgestattet mit ihrem besten Filzstift würde sie abwarten, bis niemand in der Kirche war, und dann auf das Gerüst bei der Wandmalerei klettern. An einer schönen Stelle würde sie etwas Winziges in das Bild malen, etwas, das nicht sofort ins Auge fiel. Zunächst wäre es ihr Geheimnis, ein Wissen, das sie den Großen voraushatte! Später würde sie es dann ihren Kindern sagen und die wiederum deren Kindern und so weiter und so fort: Marei hatte sich in dem Wandgemälde verewigt!
Deshalb also trödelte Marei heute auf dem Heimweg von der Schule herum. Sie verabschiedete sich schon beim Brunnen von ihrem besten Freund Hubi, anstatt wie üblich gemeinsam mit ihm weiterzugehen, und schlenderte betont lässig Richtung Kirche. Dort verstaute sie im Vorraum ihren Ranzen hinter dem Regal mit den Gesangbüchern und machte sich zwischen den Bankreihen so gut wie unsichtbar.
Eine ganze Weile geschah gar nichts, außer dass von der Orgel zarte oder gewaltige Töne durchs Kirchenschiff schwebten und dass die Malerin sich auf ihrem Gerüst bewegte. Sophia war voller freudiger Erwartung, denn heute würde sie die letzte weiße Farbe abgetragen haben und mit dem nächsten Schritt der Restaurierung beginnen können.
Zum letzten Mal wischte sie mit Schwamm und Lappen über den unteren Rand des Gemäldes, dann rief die junge Frau zur Orgel hinauf: »Geschafft, Leander! Jetzt bin ich mit dem ersten Teil der Arbeit fertig!«
Die Orgel schwieg, und wenig später tauchte Leander neben ihr auf. Er sah die Freude in ihren dunklen Augen und war berührt davon. »Du hast viel geschafft in dieser kurzen Zeit!«, sagte er anerkennend. »Es war bestimmt ein schwieriger Teil deiner Arbeit und nicht der schönste.«
»Ich freue mich auf das, was jetzt kommen kann!«, strahlte die Restauratorin. »Und ich bin auch froh, dass bald das Gerüst abgebaut wird und ich dann einfach auf einer Leiter arbeiten kann. Bisher war es eine Hilfe, aber gleichzeitig stört es auch und hindert mich daran, einen Gesamteindruck von dem Gemälde zu bekommen.«