Tessa Hofreiter

Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman


Скачать книгу

Sophia zuckte mit den Schultern. »Ich gönne ihnen ihr Hobby und ich bestreite ja nicht, dass die Unterwasserwelt faszinierend ist, aber ich will das nicht erleben.«

      Die junge Frau hatte sehr entschieden gesprochen und sich ganz auf ihre eigenen Worte konzentriert, deshalb war ihr entgangen, dass der Mann an ihrer Seite erstarrte. Er biss die Kiefer zusammen und starrte geradeaus. Nach einem kurzen Schweigen schien er sich wieder zu entspannen und griff nach seinem Weinbecher. »Du versuchst, mich zu trösten, das ist nett von dir«, erwiderte er.

      Sophia schüttelte leicht den Kopf. »Das ist nicht nett, sondern die Wahrheit. Jeder Mensch hat seine Besonderheiten, und du magst eben keine Höhe.«

      »Besonders dann nicht, wenn sich keine massive Brüstung zwischen mir und dem Abgrund befindet!«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu.

      In Bergmoosbachs Häusern erloschen langsam die Lichter. Das Funkeln der Sterne am nächtlichen Himmel wurde deutlicher, und die Dunkelheit gewann einen anderen Farbton. Die tiefe Stille wurde nur vom Zirpen der Grillen unterbrochen. Es duftete süß nach Geißblatt und der sommerwarmen Erde.

      Sophia legte sacht ihre Hand auf Leanders Arm. »Ich habe das Gefühl, dass das noch nicht alles ist. Seit heute Mittag bist du verändert. Du warst entspannt und gut gelaunt, aber seitdem Frau Plättner nach der verschwundenen Marei gefragt hat, wirkst du bedrückt. Jetzt ist doch alles in Ordnung, Marei ist wohlbehalten wieder bei ihrer Familie. Du musst dir keine Gedanken mehr um sie machen.«

      »Es ist nicht Marei, es geht um ein anderes Kind«, antwortete Leander langsam.

      Sophia spürte, wie der Mann an ihrer Seite mit sich und seinen Erinnerungen kämpfte, und wartete schweigend.

      »Wir waren drei Kinder zu Hause, mein älterer Bruder, dann ich, dann meine kleine Schwester Esther. Sie war das Nesthäkchen, wir waren dreizehn und elf Jahre älter als sie. Dass sie sich oft einsam gefühlt haben muss, haben wir damals natürlich nicht verstanden. Wir lebten in unserer eigenen Welt – Pubertät, Mädchen, Musik, Sport, Führerschein. Die Kleine war zwar da, aber irgendwie gehörte sie auf einen anderen Stern. Natürlich wollte sie immer bei uns sein, wollte alles mitmachen. Was kann man zusammen ›spielen‹, wenn man achtzehn, sechzehn und fünf Jahre alt ist? Sie schien einfach immer zu stören«, sagte er mit bitterem Bedauern.

      Sophias Hand lag immer noch auf Leanders Arm, und der Trost, der von dieser sanften Berührung ausging, fand den Weg durch seine schmerzlichen Erinnerungen hindurch. Er legte seine Hand auf ihre, und ihre Finger verschränkten sich zu einem zuverlässigen Halt.

      »Dann kam das Weihnachtsfest, und Esther bekam die heiß ersehnten Schlittschuhe geschenkt, mit denen sie endlich zusammen mit den großen Brüdern auf den zugefrorenen See konnte. Natürlich war es schwierig für sie, immer wieder ist sie hingefallen. Wie war sie böse auf die Großen, die mal wieder alles besser konnten als sie, aber am allermeisten war sie böse auf sich selbst, weil ihr das Schlittschuhlaufen nicht so gelingen wollte, wie sie es sich erträumt hatte. Und wie eifrig sie war! Hinfallen, aufstehen, wieder hinfallen, wieder hoch – sie war unermüdlich!« Ein wehmütiges Lächeln glitt über Leanders Gesicht. »Ich sehe sie noch vor mir: Ein Zwerg im roten Schneeanzug, der sich immer wieder von neuem aufrappelt und vor Glück laut lacht, wenn es gelingt, auf den Beinchen zu bleiben und ein paar Schritte über das Eis zu machen.«

      Er schwieg, und Sophia hielt den Atem an. Sie ahnte, wie die Geschichte weitergehen würde.

      »An diesem Abend fiel sie völlig übermüdet, aber mit blitzenden Augen ins Bett. ›Morgen übe ich weiter, so lange, bis ich es kann!‹, verkündete sie energisch. ›Ihr werdet schon sehen!‹

      Was wir dann am nächsten Morgen sahen, war ihr leeres Bett. Esther war verschwunden, ebenso ihr Schneeanzug und ihre Schlittschuhe.

      Als gestern Frau Plättner an unseren Tisch kam und nach ihrer Tochter fragte, da habe ich wieder meine Mutter gesehen, die von Haus zu Haus irrte und jeden nach Esther fragte. Sie war getrieben von Angst und der wahnwitzigen Hoffnung, das Mädchen möge irgendwo sein, egal wo – nur nicht draußen auf dem Eis. Über Nacht war Föhn aufgekommen und mit ihm Tauwetter. Der See war zu einer tödlichen Falle geworden und alle Spuren deuten darauf, dass Esther genau dorthin gegangen war.

      Wir fanden sie am Abend des zweiten Tages. Die Strömung hatte sie unter das Eis gezogen und dort lag sie. Ein Zwerg im roten Schneeanzug, der nie wieder aufstehen würde.«

      Sophias Herz zog sich zusammen. Mit Tränen in den Augen stammelte sie: »Und …, und ich erzähle dir von meiner Angst, unter Wasser nicht atmen zu können.«

      Leander wandte seinen Kopf zu ihr. Sein Blick war ruhig und liebevoll, trotz des Schmerzes. »Nicht! Tu es nicht«, sagte er sanft. »Mach dir keine Vorwürfe wegen deiner Worte. Sie haben nichts mit diesem alten Schmerz zu tun. Im Gegenteil, ich finde dich sehr verständnisvoll, und dein Mitgefühl tut mir gut.« Er legte seinen Arm um die junge Frau und wollte sie an sich ziehen, aber Sophia schüttelte den Kopf.

      »Offenbar habe ich eine seltene Begabung, an alte Wunden zu rühren«, sagte sie bitter. »Dich erinnere ich unbeabsichtigt an den Tod deiner kleinen Schwester und Sebastian an seine verstorbene Frau.«

      So, wieder einmal Sebastian …, dachte Leander. Fast hätte er seinen Arm von den schmalen Schultern der Frau zurückgezogen, aber dann schüttelte er innerlich über sich selbst den Kopf. Sophia war hier, bei ihm, und er würde jetzt keinen weiteren Gedanken an den anderen Mann verschwenden. »Ich freue mich, dass du hier bist«, sagte er weich. Seine Hand strich über Sophias Wange, und mit einem leisen Seufzer bettete sie ihren Kopf an seine Brust.

      »Ich freue mich auch«, antwortete sie leise. »Und ich bin dankbar, dass du dir mein Herumtrampeln auf deinem Schmerz nicht übel nimmst.«

      Jetzt erklang ein freundliches, leises Lachen. »Wie kann ein so elfengleiches Wesen wie du auf etwas oder jemandem herumtrampeln? Du wiegst doch gar nichts, also hör bitte auf, dir deswegen Gedanken zu machen.«

      Seine Worte nahmen der Situation ihre Schwere und Bitterkeit. Die Nacht gewann ihre sanfte Sternenschönheit zurück, und sowohl Leanders als auch Sophias Herz kamen zur Ruhe. In innigem Schweigen vereint saßen sie auf den Stufen des alten Wagens, genossen die Nähe des anderen, das vorsichtige Wachsen gegenseitigen Vertrauens und ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit.

      *

      »Jawoll, so muss ein richtiger Ausflug aussehen!«, stellte Emilia fest. Ihr Blick glitt zufrieden über die Menschen, die sich an diesem sonnigen Sonntagnachmittag beim Doktorhaus versammelt hatten, um gemeinsam zum Gestüt Brunnenhof zu fahren. Neben ihrer Familie waren auch Hebamme Anna, die treue und unverzichtbare Sprechstundenhilfe Gerti Fechner und deren Schwester Sieglinde, Sophia und der Orgelbauer mit von der Partie. Und natürlich Markus, der etwas ungelenk mit Nolan herumalberte, damit sein bewundernder Blick nicht andauernd an dem hübschen Mädchen hing. Emilia trug Jeans mit abgeschnittenen Beinen und ein helles Top, ihre glänzenden, kastanienfarbigen Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt. Von der Sonne hatte ihre Haut einen Goldton angenommen, der ihre großen grauen Augen besonders zum Strahlen brachte. Sie sah einfach umwerfend aus, fand Markus.

      »Wenn du fertig bist mit Gucken, können wir dann vielleicht mal fahren?«, fragte Emilia grinsend. Sie und Markus wollten mit den Rädern zum Brunnenhof fahren, die Erwachsenen würden mit ihren Autos unterwegs sein.

      Markus wurde knallrot, schwang sich auf sein Mountainbike und legte ordentlich Tempo vor. Im Handumdrehen hatte das Mädchen ihn eingeholt, und beide verschwanden hinter der nächsten Wegbiegung.

      »So, ab mit dir ins Auto!«, scheuchte Sebastian den begeisterten Nolan in den Geländewagen, in dem bereits Anna, Traudel und Benedikt warteten. Die anderen verteilten sich auf die restlichen Wagen und dann ging es hinaus zum Gestüt Brunnenhof.

      Nachdem sie die Landstraße verlassen hatten, fuhren sie über eine gewundene Zufahrt bergauf zwischen blühenden Wiesen und Weiden, auf denen die edlen Tiere des Brunnenhofs standen. Sie passierten zwei steinerne Torpfosten, dessen Türgitter einladend geöffnet waren. Eine breite Zufahrt aus Kies führte zu dem schönen, alten Anwesen und seinen Gärten und Wiesen,