Tessa Hofreiter

Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman


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Es gab sechs Kinder in dieser bunten, lebhaften Familie, und Tochter Antonie, genannt Toni, war Emilias beste Freundin. Das Mädchen empfing die Gäste mit einem freudigen Wedeln ihrer Arme, und sie wies in den Obstgarten, wo unter alten Apfelbäumen eine lange Kaffeetafel gedeckt war.

      »Wie schön!«, sagte Sophia andächtig.

      Das hohe Gras bildete einen dichten, grünen Teppich, zwischen dem Laub der Bäume spielte das Sonnenlicht, und der rustikale Holztisch war mit weißem Leinen, Silber und weißem Steingut gedeckt. Einzelne Blüten entfalteten ihre Farbenpracht in unterschiedlichen Gläsern, und Buchsbaumzweige lagen zwischen den Gedecken. Glasierte Apfelkuchen mit Walnüssen, Erdbeertörtchen und Schokoladentorten warteten neben frischen Pfirsichen, Aprikosen, kräftigem Bauernbrot, Geselchtem und würzigem Bergkäse auf die Gäste.

      »Na, verhungern wird hier niemand«, meinte Sieglinde Fechner und fügte mit einem anerkennenden Blick auf die Gastgeberin hinzu: »Wieviel Mühe Sie sich gemacht haben!«

      »Das ist keine Mühe, das ist mein ganz normaler Alltag«, erwiderte Elise von Raven lächelnd. »Wir sind halt eine große Familie, und wir haben gerne Gäste. Außerdem packt jeder mit an, anders geht es nicht.«

      »Schon, aber eine Familie mit sechs Kindern zu versorgen, das ist gewiss keine Kleinigkeit«, erwiderte die ältere Frau. Ihr Blick glitt über die Tafel, die für über zwanzig Personen gedeckt war.

      »Vor allem nicht, wenn es immer mehr werden, denn die Kinder bringen ganz selbstverständlich ihre Freunde mit. Aber wem sage ich das! Sie sind doch selbst bis vor kurzem als Löwenbändigerin beschäftigt gewesen«, antwortete Elise von Raven mit einem Augenzwinkern.

      »Wohl war!«, seufzte Sieglinde Fechner, die bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin im Gymnasium der benachbarten Kreisstadt gearbeitet hatte. »Und der Bildungshunger mancher Löwen hat zeitweilig zu wünschen übrig gelassen.« Die unverheiratete Sieglinde war mit Herz und Verstand Lehrerin gewesen, aber jetzt genoss sie ihren Ruhestand in vollen Zügen. Zufrieden ließ sie ihren Blick über die lange Tafel schweifen, an der Jung und Alt zusammen saßen.

      Sophia fühlte sich an Sonntage ihrer Kindheit erinnert, wenn die italienische Großfamilie zusammenkam. Sie saß neben Leander, und immer, wenn sich ihre Blicke begegneten, schlug ihr Herz schneller, wenn sie das Lächeln in seinen dunklen Augen sah.

      Habe ich Schmerz und Wut und Misstrauen, mit der meine letzte Liebe zerbrochen ist, endlich hinter mir gelassen?, dachte sie im Stillen. Sind Roberto Alvarino und die Narben, die er mir zugefügt hat, nur noch Geschichte? Und ist Leander der Mann, mit dem ich in eine gemeinsame Zukunft gehen kann? Noch weiß ich wenig über ihn, er ist so zurückhaltend.

      Sophia spürte seinen Arm, der auf der Rückenlehne ihres Stuhles lag, und sie lehnte sich leicht dagegen. Leanders Hand glitt auf ihre Schulter, und es fühlte sich an wie eine Umarmung.

      »Äh, Signora Corelli?«, meldete sich Toni zu Wort. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie die ganze Zeit anstarre. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe ganz einfach das Gefühl, Sie schon einmal gesehen zu haben, Ihr Gesicht ist mir so vertraut.«

      »Gut, dass du mich darauf ansprichst«, antwortete Sophia. »Ich habe deine prüfenden Blicke wohl bemerkt und mich allmählich gefragt, ob mit meinem Gesicht etwas nicht in Ordnung ist.«

      »Oh! Nein, das ist alles prima«, sagte Toni rasch. »Ich frage mich eben die ganze Zeit, an wen Sie mich erinnern.«

      Ihre Mutter Elise war dem Gespräch gefolgt, und nun warf auch sie der Künstlerin einen prüfenden Blick zu. »Ich hab’s!«, sagte sie plötzlich. »Ich weiß, wen du meinst. Es ist das Bild der italienischen Schönen, das zwischen den Fenstern im oberen Flur hängt!«

      »Ja, genau! Daher kenne ich Sie. Sie sehen der anderen Frau wirklich verblüffend ähnlich«, rief Toni aus.

      »Welcher Frau?«, erkundigte sich Sophia interessiert.

      »Wir wissen nicht, wie sie heißt, das scheint eine Art Familiengeheimnis zu sein«, erzählte jetzt Herr von Raven. »Bekannt ist nur, dass mein Ur-Ur-Großvater Albert nach einer längeren Italienreise sehr still und in sich gekehrt nach Hause gekommen ist. Albert von Raven hatte einen guten Ruf als Portraitmaler und er war nach Italien gereist, um dort Studien zu betreiben. Nach seiner Rückkehr hat er nur noch ein einziges Bild gemalt, jenes Portrait, das bei uns im Haus hängt. Danach hat er Pinsel und Farben nie wieder angerührt.

      Jahre später hat er Leontine geheiratet, und es geht die Familiensaga, dass meine Ur-Ur-Großmutter ein gutes Leben an seiner Seite hatte, und er ihr jeden Wunsch erfüllte. Nur nicht ihre beiden Herzenswünsche: dass er ein Portrait von ihr malte und das Bild der unbekannten Schönen, das in seinem Arbeitszimmer hing, in eine Abstellkammer verbannte.«

      »Wie romantisch!«, seufzte Emilia und bekam Sternchenaugen. »Das klingt nach einer ganz großen, ganz traurigen Liebesgeschichte.«

      »Na, Emilia, woher hast du denn diese Erkenntnis? Ich glaube, ich muss mal ein wenig mehr darauf achten, welche Romane du liest«, zog ihr Vater sie auf.

      Würdevoll ignorierte Emilia den gutmütigen väterlichen Spott. »Wie die Frau wohl hieß? Schade, ihren Namen und ihre Geschichte werden wir wohl nie erfahren.«

      Vor Aufregung drückte Sophia Leanders Hand so fest, dass es wehtat. Überrascht schaute der Mann sie an. Was an dieser alten Geschichte berührte die junge Frau so sehr, dass sich ihre Wangen röteten und ihre Augen blitzten?

      »In meiner Familie geht die Geschichte so«, berichtete Sophia. »Ein deutscher Adliger, ein Künstler, mietete sich eine Villa in der Nähe des toskanischen Dorfes, in dem meine Ur-Ur-Großmutter Francesca lebte. Bisnonna Francesca war ein ganz junges Mädchen, nur wenig älter als Emilia, als sie bei dem Maler als Dienstmädchen in Stellung ging. Der Mann blieb über ein Jahr in der Toskana, und als er ging, nahm er Francescas Herz mit sich.

      Ziemlich genau neun Monate nach seiner Abreise brachte Francesca eine Tochter mit blauen Augen zur Welt. Es heißt, dass seitdem in unserer Familie eine gewisse Vorliebe für die deutsche Sprache und die Begabung zum Malen vererbt werden.«

      »Sophia!« Leander küsste ihre Hand, ganz einfach so, in aller Öffentlichkeit. »Das heißt, dass du wahrscheinlich deinen namenlosen Ur-Ur-Großvater gefunden hast?«

      »Francesca?«, wiederholte Herr von Raven nachdenklich. »Albert und Francesca? Die Frau auf dem Gemälde trägt ein Medaillon, und wenn man sehr genau mit einer Lupe hinschaut, dann erkennt man …«

      »… die ineinander verschlungenen Buchstaben A und F«, vervollständigte Sophia den Satz. Sie griff nach ihrer feinen Goldkette, die sie um den Hals trug, und zog sie unter ihrem Sommerkleid hervor.

      An der Kette hing ein zartes, ovales Medaillon, dessen Rand mit winzigen Brillanten und Rubinen besetzt war. Die Mitte zierte eine kunstvolle Gravur, welche die miteinander verbundenen Buchstaben A und F darstellte.

      »Es ist der wertvollste Besitz meiner Familie«, sagte Sophia zärtlich, »und er wird immer von der Mutter auf die erstgeborene Tochter vererbt.«

      »Was für eine Geschichte!« Herr von Raven schaute Sophia an. »Dann sind wir also über einen gemeinsamen Ur-Ur-Großvater miteinander verwandt?«

      »Es scheint so«, antwortete die junge Künstlerin. »Ich würde mir jetzt sehr gern das Portrait ansehen, wenn es Ihnen recht ist.«

      »Sehr recht sogar. Willkommen in der Familie von Raven, Sophia!« Er hob sein Glas und trank der jungen Frau zu.

      »Ganz meinerseits! Willkommen in der Familie Corelli, Leopold!«

      Unter allgemeinem Plaudern und Lachen löste sich die Tafelrunde auf. Sophia, Leander und die Seefelds gingen mit ihren Gastgebern ins Haus, um das Portrait anzuschauen, die anderen schlenderten hinüber zu den Ställen, um die Zwillingsfohlen zu begrüßen.

      Das Portrait, welches Sophia mit großem Interesse begutachtete, zeigte tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr: die gleichen schwarzen Augen, die gleichen zarten Gesichtszüge, die Haltung des Kopfes, das Lächeln,